Eduard* sitzt auf dem Sofa vor dem Fernseher und schaltet durch die Kanäle, aber nichts weckt sein Interesse. Neben ihm sitzen seine Schwester und sein Vater, stumm und in sich gekehrt. Die Stimmung ist gedrückt, das Zimmer still – kein Baum, keine Geschenke, keine Lichterketten, keine Musik. Es ist Weihnachten, aber es fühlt sich nicht so an. Wir schreiben das Jahr 2023 und dieses Jahr ist alles anders. Eduard ist 18 Jahre alt und erlebt das erste Weihnachtsfest ohne seine Mutter, die er vor einem halben Jahr verlor. Um den schmerzlichen Erinnerungen zu entfliehen, beschloss die Familie, die Feiertage im Ausland zu verbringen. Sie hofft, dass die Entfernung von zu Hause den Verlust erträglicher machen würde. Doch die Trauer reist mit– unsichtbar und allgegenwärtig. Auch in der Ferne bleibt die Leere, die der Verlust hinterlassen hat, ein ständiger Begleiter.
Im Jahr 2023 starben in Deutschland 1,03 Millionen Menschen – hinter jedem dieser Verluste stehen Angehörige, Partner, Freunde und Familien, die in der Weihnachtszeit ohne den geliebten Menschen auskommen müssen. Eduard ist einer von ihnen. Diese Jahreszeit, die traditionell für Nähe, Zusammenhalt und Besinnlichkeit steht, kann für Trauernde eine besonders schmerzhafte Zeit sein.
Weihnachten in Trauer
„Viele Menschen empfinden Trauer als eine Erfahrung dunkler Nacht, die gerade in diesen kurzen Tagen mit wenig Sonnenlicht für jeden spürbar wird“, so Stephan Neuser, Generalsekretär des Bundesverbands Deutscher Bestatter. Das Weihnachtsfest wird oft mit Harmonie und Freude verbunden. Doch für Menschen, die einen Verlust erlitten haben, können die Erinnerungen an frühere gemeinsame Feiern schmerzhaft sein. Der leere Stuhl am Tisch, das fehlende Lachen oder das Wegfallen des gemeinsamen Schmückens des Baumes machen die Abwesenheit besonders deutlich.
Junge Menschen wie Eduard sprechen am häufigsten mit ihrer Familie über Tod und Trauer. Das bestätigt eine Umfrage der Malteser aus dem Jahr 2020, bei der rund 1.000 Menschen zwischen 16 und 30 Jahren befragt wurden. Dabei gaben 35 Prozent an, am liebsten mit ihrer Familie über diese sensiblen Themen zu sprechen. Gleichzeitig äußerten 52 Prozent den Wunsch, sich gerne mit Freunden über das Sterben, den Tod und die Trauer austauschen zu wollen.
Die Zahlen zeigen, dass es für viele junge Menschen schwierig ist, über diese Themen zu sprechen – besonders in der Weihnachtszeit, die von Nähe und Harmonie geprägt ist. Für jemanden wie Eduard kann das eine zusätzliche Herausforderung sein. Da seine Altersgenossen oft noch keine vergleichbaren Verlusterfahrungen haben, fällt es ihm schwer, Verständnis für seine Gedanken und Gefühle zu finden. So fühlt er sich mit seinem Schmerz und seinen Gedanken oft allein.
Für Eduard sind die festlichen Tage nicht mehr wie früher. „Ich freue mich auf Weihnachten, aber es ist eben anders. Es ist auch ein Fest der Traurigkeit“, berichtet er. Wie Eduard fällt es vielen Menschen während der Weihnachtszeit schwer, mit anhaltender Trauer umzugehen. Der Kontrast zwischen der festlichen Atmosphäre und den eigenen Gefühlen kann den Schmerz noch deutlicher machen. Traditionen, die einst Freude bereiteten – wie das gemeinsame Adventsessen oder gemütliche Abende im Kreis der Familie – erinnern nun daran, dass ein geliebter Mensch fehlt. Was einst selbstverständlich war, scheint plötzlich unerreichbar zu sein. Die Lücke, die Eduards Mutter in der Famile hinterlässt, wird für ihn gerade in dieser besonderen Zeit des Jahres schmerzhaft deutlich.
Der Weg durch die Trauer
Menschen trauern unterschiedlich, es gibt keine allgemeingültige Norm. Der Verlust eines geliebten Menschen ist ein tiefgreifendes Erlebnis, das das seelische Gleichgewicht der Hinterbliebenen empfindlich stören kann. Der Prozess der Wiederherstellung dieses inneren Gleichgewichts wird als Trauer bezeichnet. Sie betrifft die Betroffenen auf emotionaler, spiritueller, sozialer und körperlicher Ebene.
Für manche Menschen sind die ersten Wochen nach dem Verlust eines geliebten Menschen besonders schwer. Andere brauchen Monate, um das ganze Ausmaß des Geschehens zu begreifen. Das sogenannte Trauerjahr bezeichnet die Zeit, in der man erstmals alle Ereignisse des Jahres ohne den Verstorbenen erlebt: den ersten Geburtstag ohne ihn, Momente des Glücks, die man nicht mehr teilen kann, und andere einschneidende Erlebnisse, die die Lücke schmerzlich bewusst machen. Der erste Todestag wird oft als symbolischer Abschluss gesehen. Doch für viele geht die Verarbeitung des Verlustes weit über dieses Jahr hinaus. Denn die Erinnerungen und der Schmerz sind auch in den folgenden Jahren immer wieder präsent. Viele Betroffene kehren zwar nach einem Jahr in ihren Alltag zurück – gehen wieder arbeiten, treiben Sport und gehen ihren gewohnten Beschäftigungen nach – aber die Trauer bleibt ein Teil ihres Lebens.
„Im Abschied ist die Geburt der Erinnerung.“ – Salvador Dali
Um den Trauerprozess abzuschließen, muss nicht nur die Trauer selbst, sondern auch – zumindest teilweise – der geliebte Mensch losgelassen werden. Nicht nur das erste Weihnachtsfest nach dem Verlust eines geliebten Menschen ist besonders schwer, auch die folgenden Jahre können von tiefer Trauer geprägt sein. Gerade die Weihnachtszeit mit ihren intensiven Erinnerungen und festlichen Traditionen kann die Trauer besonders spürbar machen. Das bedeutet aber nicht, dass der Schmerz mit dem Ende der Feiertage verschwindet. Trauer bleibt oft ein ständiger Begleiter – mal leiser, mal drängender – und wird für viele Betroffene ein dauerhafter Bestandteil des Lebens. Während sich die Welt weiterdreht und das Leben für andere scheinbar unverändert weitergeht, ist für Betroffene die eigene Welt zusammengebrochen.
Umgang mit Trauer
Jonathan* ist 52 Jahre alt und der Vater von Eduard. Letztes Jahr verlor er seine Frau, mit der er 25 Jahre verheiratet war. „Seit dem tragischen Ableben meiner Frau ist die Familie näher zusammengerückt“, erklärt er. „Ihr Tod hat uns alle völlig aus der Bahn geworfen. Wir standen unter Schock und ich wusste oft nicht, wie ich mit meinen eigenen Gefühlen und Ängsten umgehen sollte. Gleichzeitig war meine größte Sorge, wie meine Familie mit diesem Schmerz zurechtkommen würde.“ Fast zwei Jahre sind nun seit dem Tod seiner Frau vergangen. Obwohl die Trauer noch immer tief sitzt, sei Jonathan stolz auf sich und seine Familie.
Auch für Jonathan steht nun die Weihnachtszeit bevor. Das Weihnachtsfest hätten sie damals bei seiner Schwägerin im großen Kreis gefeiert. Das sei jetzt nicht mehr der Fall. „Letztes Jahr sind wir über Weihnachten in den Urlaub gefahren. Wir wussten einfach nicht wohin mit uns“, erzählt Jonathan. „Dieses Jahr wissen wir noch nicht, wie und wo wir feiern. Ich denke, dass es sehr hilft, mit der Familie offen zu kommunizieren. Aber es fällt eben manchmal schwer.“
Jeder Mensch geht anders damit um, wenn die festliche Zeit auf anhaltende Trauer trifft und die strahlende Außenwelt mit der eigenen inneren Dunkelheit kontrastiert. Dennoch gibt es Wege, die hilfreich sein können.
Für Menschen wie Jonathan und Eduard kann es nützlich sein, sich im Vorfeld über das bevorstehende Fest auszutauschen. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, ist für die Hinterbliebenen oft nichts mehr wie zuvor. Wer kocht das Weihnachtsessen, wenn die Person, die es immer gemacht hat, nicht mehr da ist? Wer schmückt die Wohnung, wer kümmert sich um die Vorbereitungen? Und vor allem: Fühlt man sich überhaupt in Feierlaune? Solche Fragen können eine große Herausforderung darstellen. Es kann jedoch helfen, sie offen anzusprechen und gemeinsam eine Lösung zu finden, wie man das Fest gestalten möchte – auch wenn es emotional sehr schwer fällt.
Für Eduard ist es vor allem schwierig, mit den weihnachtlichen Traditionen von früher umzugehen. „Früher haben wir zusammen Plätzchen gebacken, jedes Jahr das gleiche Rezept von meiner Mutter“, erzählt er. „Letztes Jahr fiel das dann leider aus. Aber dieses Jahr wollen meine Schwester und ich das zusammen machen, darauf freue ich mich schon.“
„Du hast den Lebensgarten verlassen, doch deine Blumen blühen weiter.“ – Manfred Hoffmann
Für viele Menschen ist es ein Trost, vertraute Traditionen aufrechtzuerhalten. Auch wenn diese Rituale ohne die verstorbene Person nicht mehr die gleichen sind, sehen viele darin eine wertvolle Möglichkeit, ihre Liebe und Wertschätzung für den geliebten Menschen zu bewahren und zu ehren.
Zwischen Trauer und Erinnerung
Eduard sitzt vor dem Fernseher und zappt durch die Kanäle. Der Fernsehschrank ist festlich geschmückt, im Wohnzimmer stehen Räuchermännchen und ein Schwibbogen taucht den Raum in ein warmes Licht. Es ist Weihnachtszeit und gestern hat er mit seiner Schwester die Wohnung geschmückt – begleitet von weihnachtlicher Musik. Es war schön, aber auch traurig, wie so vieles seit dem Tod seiner Mutter. Wie dieses Weihnachten wird, weiß Eduard nicht – aber er hat gelernt, dass das in Ordnung ist. In einer Zeit voller Freude ist es verständlich, traurig zu sein.
„Nie erfahren wir unser Leben stärker als in großer Liebe und in tiefer Trauer.“ – Rainer Maria Rilke
„Ich glaube, dieses Weihnachten wird es besser. Es ist nicht leicht für mich, aber ich habe gelernt, dass es okay ist, auch an Weihnachten traurig zu sein“, sagt Jonathan. Vielen Menschen hilft es, mit sich selbst nachsichtig und verständnisvoll umzugehen. Trauer darf ihren Platz haben, auch an den Feiertagen. Ebenso ist es wichtig, sich zurückziehen zu können, wenn die festliche Stimmung zu überwältigend wird. Weihnachten soll kein Muss sein – jeder soll selbst entscheiden können, wann und wie er bereit ist zu feiern.
Weihnachten ist ein Fest der Familie und der Liebe, bei dem auch unsere verstorbenen Angehörigen nicht vergessen werden dürfen. Sie haben ihren Platz in unseren Herzen und die besinnliche Zeit lädt uns ein, ihnen in besonderer Weise zu gedenken. Ob beim Anzünden einer Kerze, beim Besuch am Grab oder beim Blick in den Sternenhimmel – überall ist ihre Gegenwart spürbar. Und wenn sie da von oben auf uns hinabblicken sollten, dann würden sie wollen, dass wir an sie denken und trotzdem feiern – Weihnachten.
* Die Namen wurden geändert