Soziale Phobie

Wenn Angst zum ständigen Begleiter wird

von | 4. Dezember 2020

Furcht vor anderen Menschen: Wenn alltägliche Dinge zu Stresssituationen werden.

„Hallo. Einmal Pommes mit Ketchup und Mayo bitte.“ Ist doch eigentlich ganz einfach, denkt Julian M.* Vor ihm stehen noch zwei Leute, dann ist er dran. Begrüßung, Bestellung, Danke. Sie kommt ganz plötzlich, die Angst. Sein Herz beginnt schneller zu schlagen. Es schlägt so laut, dass er es hören kann. Fast zeitgleich fangen seine Hände an, zu zittern. Hastig vergräbt er sie in den Hosentaschen. Seine Handflächen sind schweißnass, die Finger eiskalt.
„Alles klar?“, fragt sein bester Freund. Julian lächelt gezwungen und nickt. Gleich ist er dran. Er schluckt den Kloß in seinem Hals runter, drückt seinem Kumpel das bereits abgezählte Geld in die Hand und fragt: „Kannst du für mich bestellen?“

Julian gehört zu den zwei Prozent der Menschen in Deutschland, die laut AOK an einer sozialen Phobie leiden. Diese gehören zu den phobischen Störungen und treten gleichermaßen bei Männern und Frauen auf, während alle anderen Phobien häufiger bei Frauen auftreten. Die soziale Phobie sei eine ausgeprägte Angst, die entstehe, wenn man in sozialen Situationen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerate, so Psychologin Susanne Hunger von der Diakonie Freiberg. „Im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen, muss nicht immer unbedingt der Realität entsprechen, sondern wird nur so wahrgenommen”, erklärt Hunger gegenüber medienMITTWEIDA.

Sie ist immer da

Julian sagt, dass die Angst eigentlich in allen sozialen Situationen präsent sei. „Es wird schlimmer, wenn mehr Leute dabei sind. Dazu zählen auch Leute, die man nicht kennt und die eigentlich gar nicht Teil der Interaktion sind“, erzählt er.
Das bestätigt auch Psychologin Hunger: „In Angstsituationen verändern sich vor allem die Gedanken. Betroffene glauben, sich peinlich oder komisch zu verhalten und haben Angst, von anderen negativ bewertet zu werden.”
Sogenannte Katastrophengedanken wie „Ich schaffe das nicht“ oder „Die anderen werden mich auslachen“, senden dem Gehirn ein Gefahrensignal. Der Körper müsse aktiv werden, die körperlichen Prozesse würden angeregt, erklärt die Psychologin.
Die physischen Symptome der Sozialphobie ähneln denen anderer Angststörungen. Vorrangig beginnen Betroffene zu schwitzen und zu zittern, sie bekommen Herzrasen, werden kurzatmig oder erröten. Andere verspüren eine Übelkeit oder den Drang, dringend die Toilette aufsuchen zu müssen.

Die Ursachen für eine soziale Phobie können sehr vielfältig sein. Zum einen kann es gewisse genetische Veranlagungen geben. Kinder, die mit eher ängstlichen Eltern aufwachsen, haben ein erhöhtes Risiko, ebenfalls Angst in sozialen Situationen zu empfinden.
Zum anderen können traumatische Ereignisse wie der Tod eines Familienmitglieds oder Jobverlust Auslöser der Phobie sein. Auch die Art der Erziehung und Beziehungserfahrungen – Eltern, Freundschaft, Liebe – können eine Rolle spielen.
„Wenn die Angst das erste Mal auftritt, hat das häufig situative Auslöser“, so Psychologin Hunger. „Man hat schlecht geschlafen, zu wenig gegessen, es ist heiß, man ist vielleicht wütend.“ Folglich können auch physiologische Gegebenheiten ausschlaggebend sein.
Eine genaue Ursache festzulegen, sei laut Hunger schwer. Oftmals treffen mehrere Umstände aufeinander, die zur Entstehung der Phobie beitragen können.

„Flucht und Vermeidung“

Als typisches Verhalten der Betroffenen beschreibt Hunger die Vermeidung sozialer Situationen durch Umgehung. Wenn man die Situation meide, vermeide man auch die damit einhergehenden negativen Konsequenzen.
Betroffene machen sich oft schon vorher Gedanken darüber, wie es vielleicht beim nächsten Mal sein könnte. Dabei spricht man laut Hunger von einer sogenannten Erwartungsangst: Die Angst vor erneuter Angst und einer möglichen Verschlimmerung.
„Mit körperlichen Erscheinungen kann man lernen umzugehen“, meint Frau Hunger. „Das Gefühl zu wissen, dass die Angst vielleicht wiederkommt, ist häufig belastender.“ Vermeidung führe folglich nicht dazu, dass die Angst aufhört.

„In Phasen, in denen ich echt mit der Angst zu kämpfen habe, distanziere ich mich“, sagt Julian. Das hat auch negative Auswirkungen auf sein persönliches soziales Umfeld: „In solchen Momenten fühle ich mich oft einsam. Obwohl es ja eigentlich ein selbst gewähltes Leid ist.“
Des Weiteren erklärt er, dass er in den Phasen, in denen er Angst empfindet, anfälliger dafür sei, in Depressionen zu verfallen: „Je länger ich in solchen Isolationsphasen soziale Situationen umgehe, desto schwerer fällt es mir, mich wieder „normal“ zu integrieren.“
Psychologin Susanne Hunger kann diese Aussage bestätigen. Wenn man sich distanziere und man kein Gegenüber zur Kommunikation habe, beschäftige man sich eher mit seinen eigenen Gedanken. Diese seien meistens eher abwertend und somit selbstwertschädigend. Es könne passieren, dass die Betroffenen eine weitere psychische Krankheit entwickeln.
Depressionen sind oft sehr eng mit Angststörungen verbunden. Vor allem wenn Ängste chronisch werden, gelten Depressionen häufig als Begleiterkrankung.
Hunger rät dringend davon ab, Ängste mit Alkohol, Drogen oder anderen Beruhigungsmitteln zu bewältigen. Es bestehe die Gefahr, in eine Abhängigkeit zu geraten. „Wenn man trinkt, fühlt man sich sicherer, stärker. Das, was man erzählt, ist amüsanter und flüssiger. Und wenn man merkt, dass das klappt, glaubt man, es wäre eine super Alternative.“

Betroffene sind nicht allein

Einige von Julians Freunden wissen von seiner sozialen Phobie. Sie machen ihm kein schlechtes Gewissen, wenn er mal kurzfristig ein Treffen absagt oder er während eines Treffens nach Hause möchte. Sie zeigen Verständnis und unterstützen ihn in Situationen, in denen es nötig ist.
Wenn Außenstehende von der Krankheit wissen, können sie sich darüber informieren. Ängste sollten ernst genommen werden, das heißt Sätze wie „Stell dich nicht so an“, sollten vermieden werden. „In einer Angstsituation sollten Angehörte erst einmal versuchen, die Betroffenen zu beruhigen und die Situation zu normalisieren”, empfiehlt Hunger.
„Angst muss man bewältigen, aber man muss es nicht alleine tun.”
Die Behandlungsidee sei es, Betroffenen zu helfen, das Gefühl zurückzuerlangen, ihren Alltag alleine meistern zu können. Dabei könnten sie sich Unterstützung holen, Situationen gemeinsam gedanklich vorbereiten, mögliche Hindernisse besprechen und sich auch mal begleiten lassen.
Angehörige sollten jedoch vermeiden, den Betroffenen immer zu helfen, so Hunger. Das sei zwar gut gemeint, verstärke aber nicht unbedingt das Vertrauen, dass Betroffene es bald selbst wieder schaffen, mit ihrer Angst umzugehen.

Freunde und Bekannte sind nicht immer zur Stelle. Um sich in einer Angstsituation zu beruhigen, kaut Julian Kaugummi oder trinkt Wasser. Er plant voraus und informiert sich schon vor möglichen Treffen, wie viele Leute anwesend sein werden und welche er davon kennt. Wenn es ganz schlimm wird, hilft es ihm nur, sich aus der Situation zu entfernen. „Ich bleibe nah an der Tür stehen, einfach um das Gefühl zu haben, dass ich schneller gehen kann“, sagt er. Der Gedanke, dass die Situation ja gar nicht so schlimm ist, weil er nur drei Meter von der Tür entfernt steht, beruhigt ihn.
Auch laut Hunger ist Vorbereitung das A und O. Die Einstellung, mit der man an eine Situation herangehe, spielt eine große Rolle.
Hilfreiche Gedanken, sogenannte Bewältigungsgedanken, wie „Ich schaffe das“, „Ich gebe mein Bestes“ und „Ich habe vorher auch immer alles geschafft“, können Betroffenen helfen, sich zu beruhigen, erklärt sie.
Atemübungen können helfen, den Körper langsam wieder herunterzufahren. Betroffene sollten sich bewusst machen, dass es normal ist, manchmal aufgeregt zu sein. Oft sei es schon hilfreich, offen zuzugeben, dass man gerade nervös sei und Angst habe.
Auch könne es hilfreich sein, sich Rückmeldung über sein Auftreten einzuholen. Vor allem bei Angststörungen stimmten Selbst- und Fremdwahrnehmung oft nicht überein, so Hunger weiter. Man selbst sei total auf das Zittern der eigenen Hände fokussiert – anderen falle das vielleicht gar nicht auf.

Betroffene sollten sich möglichst bald greifbare Hilfe suchen. Das bedeutet, sich an psychologische oder psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen zu wenden.
Therapeutisch werden soziale Phobien mit kognitiven Verhaltenstherapien behandelt. Dabei lernen Betroffene laut Hunger, Gedanken selbstständig so bearbeiten und verändern zu können, dass sie hilfreich werden. Dadurch könnten Angstsituationen besser bewältigt werden. Alternativ gebe es auch Selbsthilfegruppen. Die seien zwar meistens nicht die erste Anlaufstelle, würden jedoch ebenfalls bei der Alltagsbewältigung helfen.

„Es ist nicht immer leicht, mit der Angst umzugehen“, sagt Julian. „An schlechten Tagen helfen selbst die besten Beruhigungstechniken nicht. Aber an guten Tagen kann ich mir meine Pommes mittlerweile selbst bestellen.“

*Name geändert

Text: Vanessa Jacob; Titelbild: Vanessa Jacob
<h3>Vanessa Jacob</h3>

Vanessa Jacob

ist 19 Jahre alt, liebt Bücher und unterstützt medienMITTWEIDA im Lektorat.