Werkstätten für behinderte Menschen

Teilhabe ist der Lohn

von | 9. Juni 2023

Wenig Lohn und kein Weg auf den ersten Arbeitsmarkt - Wie ist die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt?

 „Für mich stand fest, dass ich nie wieder zurück möchte.“ Fiene Herkula hat zehn Jahre in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet. So wie sie waren 2022 rund 310.000 Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigt. Das monatliche Entgelt aus der Beschäftigung in den Werkstätten betrug 2019 im Schnitt 220,28 Euro. Die Forderung nach Mindestlohn und mehr Unterstützung auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt ist laut. Die Werkstätten halten dagegen und berufen sich auf die gesetzliche Grundlage.

Die Idee hinter den Werkstätten

Wie kann es sein, dass eine Person 40 Stunden in der Woche arbeitet, und am Ende des Monats so wenig Lohn erhält? Die Gründe liegen in der Definition von WfbM. Laut Sozialgesetzbuch sind die Werkstätten Einrichtungen zur Teilhabe behinderter Menschen am und zur Eingliederung in das Arbeitsleben. Ziel ist es, behinderten Menschen berufliche Bildung und Weiterentwicklung zu bieten. Weiterhin sollen die WfbM den „Übergang geeigneter Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt“ fördern. Zusätzlich gibt es begleitende Angebote. Die Leistung in der Werkstätte soll angemessen vergütet werden. 

Dennoch ist eine Unterschreitung des Mindestlohns, der seit 2015 gilt und zuletzt im Oktober 2022 angehoben wurde, möglich. Rechtlich werden Menschen, die in Werkstätten arbeiten, nicht als Arbeitnehmer:innen gesehen. Wie die taz berichtet, hat das den Vorteil, dass ein erweiterter Kündigungsschutz besteht. Außerdem gibt es in den Werkstätten eine Arbeitsplatzgarantie und keine Leistungsverpflichtung. Gleichzeitig gelten aber viele Schutzmechanismen aus dem Arbeitsrecht nicht.

Fehlende Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt

Die Entscheidung, in einer Werkstätte zu arbeiten, hat Fiene Herkula gemeinsam mit dem Arbeitsamt getroffen. Die jetzt 34-Jährige besuchte in ihrer Jugend eine Sonderschule für Körperbehinderte und erlernte dann den Beruf der Bürofachkraft. „Lernen war nicht so mein Thema“, erzählt sie im telefonischen Interview mit medienMITTWEIDA. „Durch meinen schlechten Abschluss habe ich keinen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. Ich war zwei Jahre arbeitslos und habe dann mit meiner Mutter und dem Arbeitsamt beschlossen, in eine Werkstatt zu gehen. Auch, um Abstand von meiner Mutter zu haben.“ Fiene Herkula und ihre Mutter seien sich zu ähnlich gewesen und hätten kein gutes Verhältnis gehabt.

Die Arbeit in Werkstätten ist durch das Sozialgesetzbuch in drei Bereiche eingeteilt. Maximal drei Monate läuft das Eingangsverfahren. Dabei wird festgestellt, ob die Werkstatt die geeignete Einrichtung ist und welche Bereiche und Leistungen für die Person infrage kommen. Darauf folgt der Berufsbildungsbereich, in dem die Person maximal drei Jahre arbeitet. Ziel dort ist es „die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit des Menschen mit Behinderungen so weit wie möglich zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen“. Danach soll der Mensch mit Behinderung in der Lage sein, „ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung […] zu erbringen.“

100 Euro im Monat im Arbeitsbereich

In der letzten Stufe geht die Person in den Arbeitsbereich über und kann dort bis zur Rente beschäftigt werden. Fiene Herkula wurde in die Holzbearbeitung eingeteilt. „Wir haben aber wenig mit Holz gemacht“, erzählt die 34-Jährige. „Eigentlich haben alle nur Gurte für Arbeitshelme zusammengesteckt. Manchmal durfte ich auch im Einkauf helfen, bei einfachen Bürotätigkeiten wie Akten sortieren. Außerdem habe ich für den Sozialdienst gearbeitet und dort ebenfalls Akten sortiert und Botengänge erledigt. Die Arbeit in den Werkstätten ist größtenteils „Roboter-Arbeit“, es wird schnell langweilig, ist einfach und oft wiederholend. Ich war trotzdem froh, ein bisschen arbeiten zu können.“

Wie hoch der Lohn in den Werkstätten ist, hängt von Faktoren wie Betriebsgröße, Geschäftsfeld und Lage der Werkstatt ab. In Sachsen beträgt das durchschnittliche Entgelt pro Monat (ohne Arbeitsförderungsgeld über 52 Euro im Monat) 123,54 Euro, in Hamburg 229,13 Euro. Ein Taschengeld, kein Lohn, waren 100 Euro im Monat für Fiene Herkula. „Der Lohn war oft Streitthema. Ich war im Werkstattrat und da gab es zum Mindestlohn oft Diskussionen. Aber das ginge nicht, weil nur ein arbeitnehmerähnliches Verhältnis besteht, war dann immer die Begründung.“

Durchschnittliche Entgelthöhe in Werkstätten für behinderte Menschen in den Bundesländern, Quelle: BMAS, Grafik: Elisa Leimert

Vereinte Nationen gegen Werkstätten

Deutschland ist durch die UN-Behindertenrechtskonvention eigentlich verpflichtet, etwas am Konzept der Werkstätten zu ändern. Die Konvention wurde 2009 von Deutschland unterzeichnet und ratifiziert. Somit ist sie zu geltendem deutschen Recht geworden. Im Artikel 27 der UN-BRK werden die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, „den Erwerb von Arbeitserfahrung durch Menschen mit Behinderungen auf dem offenen Arbeitsmarkt zu fördern.“ WfbM, wie es sie in Deutschland gibt, stehen im Widerspruch zu dieser Forderung.

Der Wechsel aus der Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt ist selten. Das bestätigt auch die Bundesarbeitsgemeinschaft WfbM auf ihrer Website. Im Unterschied zu beruflichen Reha-Einrichtungen, die zeitlich befristet Menschen rehabilitieren oder Ausbildungen für Menschen mit Behinderungen anbieten, sei die Werkstatt auf Dauerhaftigkeit ausgelegt, heißt es auf der Website weiter. Vergleicht man diese Aussage mit dem Gesetz, scheint unklar zu sein, inwiefern die Befähigung zum Übergang in den ersten Arbeitsmarkt das Ziel der Werkstätten ist. Zur Erinnerung ans Gesetz: Die Werkstatt „fördert den Übergang geeigneter Personen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt durch geeignete Maßnahmen.“

Als Fiene Herkula ihren jetzigen Job als Bildungsfachkraft bei Inklusive Bildung Sachsen-Anhalt fand, war ihr sofort klar, dass das ihr Job ist. Immer wieder wird der Vorwurf laut, dass die Werkstätten den Wechselwunsch auf den ersten Arbeitsmarkt ablehnen. „Es war viel bürokratischer Aufwand, als mein Platz gekündigt werden musste“, sagt Fiene Herkula dazu. „Die Gruppenleitung wollte mich nicht so richtig gehen lassen und hat zum Beispiel gesagt ‚Das wird doch dann bestimmt ganz anstrengend.‘ Aber für mich stand fest, dass ich nie mehr in die Werkstatt zurück möchte.“

Ableismus als System

Luisa L’Audace ist Aktivistin und hat ein Buch mit dem Titel „Behindert und stolz“ über Teilhabe behinderter Menschen geschrieben. Auch sie kritisiert die geringe Entlohnung in WfbM und schreibt weiter: „Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind behinderte Menschen deutlich stärker von Armut bedroht, haben weniger Zugänge zu Bildung sowie zum ersten Arbeitsmarkt, und die Erwerbslosenquote unter ihnen ist nahezu doppelt so hoch.“ Die Gründe liegen in fehlender Barrierefreiheit und einem gesellschaftlichen System, das von Ableismus geprägt ist. Ableismus ist die Diskriminierung aufgrund einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung, zum Beispiel, wenn ein Mensch wegen dessen Behinderung bewertet oder abgewertet wird.

„Ich will die Werkstätten nicht schlecht reden. Es gibt Personen, die diese Art der Arbeit brauchen. Aber ich brauche Abwechslung und Herausforderung.“

Fiene Herkula

Basisgeld statt Mindestlohn

Die Ampelkoalition hat sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, „das Beteiligungsvorhaben zur Entwicklung eines transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystems in den WfbM und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ fortzusetzen und die Ergebnisse in der Folge auch umzusetzen.

Vorschläge, wie das Entgeltsystem zukünftig aussehen könnte, kommen von verschiedenen Seiten. Die Werkstatträte Deutschland fordern statt dem Mindestlohn ein sogenanntes Basisgeld und lehnen Mindestlohnforderungen ab: „Wer den Mindestlohn fordert, fordert gleichzeitig den regulären Arbeitnehmer*innenstatus für WfbM-Beschäftigte“ und damit würde der Verlust der gesonderten Schutzrechte einhergehen. Weiterhin würde die Arbeitsbelastung in Werkstätten steigen, da der Mindestlohn erwirtschaftet werden müsste. Aktuell komme nur ein Teil des Umsatzes aus der wirtschaftlichen Tätigkeit und wird verpflichtend zu 70 Prozent an die Beschäftigten ausgezahlt. Der Rest werde, so die Werkstatträte, von den Kostenträgern gezahlt, um Personal- und Sachkosten zu decken.

Die Idee des Basisgeldes beinhaltet, „dass jeder berechtigte Mensch pro Monat einen Betrag erhält, der bei 70 Prozent des deutschen Durchschnittseinkommens liegt. Das Basisgeld würde aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden. Grundsicherung und ähnliche Transferleistungen würden dann wegfallen. Zusätzlich würden aber Kosten, die aufgrund der Behinderung anfallen, zusätzlich gezahlt werden.“ Laut Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) würde dadurch eine Zusatzbelastung von 2,21 Mrd. Euro pro Jahr entstehen.

Das BMAS führt aktuell eine „Studie zu einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem für Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für behinderte Menschen und deren Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ durch. Im Rahmen des zweiten Zwischenberichtes aus September 2022 wurde auch eine Befragung unter Werkstattbeschäftigten veröffentlicht. Deren Wünsche: mehr Geld, Mindestlohn, leistungsgerechte Differenzierung und Entlohnung, Berücksichtigung der individuellen Problemlagen, Freibeträge erhöhen, Anrechnungsbeträge mindern.

Ob es zu einer Gesetzesänderung kommt, ist offen. Nach zwei Zwischenberichten des BMAS fehlt noch der Abschlussbericht des Forschungsvorhabens. Dieser werde laut Auskunft von Maik Bäker aus dem Referat „Teilhabe schwerbehinderter Menschen, Werkstätten, versorgungsmedizinische Begutachtung“ gegenüber medienMITTWEIDA zum 30. Juni vorliegen und soll im dritten Quartal 2023 veröffentlicht werden.

Text, Titelbild, Grafik: Elisa Leimert

<h3>Elisa Leimert</h3>

Elisa Leimert

ist 23 Jahre alt und studiert derzeit im fünften Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA ist sie seit dem Sommersemester 2023 als Ressortleitung Gesellschaft tätig.