„Westmusik auf Magnetband“

von | 4. November 2009

Trotz Zensur und Verboten hörten die Bürger der DDR die Musik, die ihnen gefiel. medien-mittweida.de sprach mit einem Macher eines damaligen Piratensenders.

Chemnitz, Ortsteil Rabenstein. Es ist ein kühler Herbsttag, als ich mich auf den Weg mache zu Dieter Schaal. Der 66-Jährige bittet mich an der Gegensprechanlage freundlich, ihn gleich in seine Werkstatt, auf der Rückseite des Reihenhauses, zu begleiten. Der winzige Raum ist voll mit allerlei Technik, so dass kaum zwei Menschen Platz darin finden. Neben den uralt erscheinenden Sendeanlagen, entdecke ich auch moderne Fernsehgeräte, Lautsprecherboxen und Telefone. Dieter Schaal ist begeisterter Technik-Fan von Kindstagen an. In den folgenden knapp anderthalb Stunden erzählt er mir seine Geschichte. Sie ist nicht annähernd so spektakulär, wie ich mir die Geschichte eines Piratensenders vorstellte. Dafür historisch einwandfrei belegt und viel zu sympathisch, um sie in Vergessenheit geraten zu lassen.

Dieter Schaal, Jahrgang 1943, bastelte bereits als zehnjähriger Junge die ersten eigenen Empfängergeräte. „Die Musik war das Interessante und aus dem Radio kam nun mal die Musik, begründet er seine Leidenschaft. Schon in der Grundschule begeisterte das Radio, welches in der Pause spielte und wo hin und wieder auch Westmusik zu hören war. Nach einer Ausbildung zum Funkmechaniker arbeitete er im Stadtfunk in Karl-Marx-Stadt. Nach dessen Auflösung 1965 waren der Kulturpalast und die Freilichtbühne Chemnitz seine Heimat. Nebenbei vertonte er auch Festsäle und Kirchen in Chemnitz und Umgebung.

Zwischen 1974 und 1981 war er „lebendes Inventar der Stadthalle Chemnitz“, wie er sich selbst lächelnd nennt. Aus dieser Zeit stammen auch die Anekdoten über Begegnungen mit Katja Ebstein, Rex Gildo, Chris Roberts oder Marianne Rosenberg. „Ganz schön geschlaucht“ habe ihn der Job, jedoch sei jeder Anflug von Erschöpfung nach einer 120-Stunden-Woche wie weggeblasen gewesen, sobald er wieder, umringt von Mikrofonen und Aufnahmegeräten, mitten in der Vertonung diverser Orchestren gewesen sei, so der Tontechniker. Danach machte er sich selbstständig und ist es bis heute.

Den Grundstein für eine so abwechslungsreiche und bis heute andauernde Berufskarriere legte er im Alter von 15 Jahren. Mit dem Geld seiner Jugendweihe finanziert er sich die Bauteile für das erste Aufnahmegerät und ein UKW-Radio. Auf dem Dach installierte er eine drehbare Antenne und im August 1958 startet sein eigener, kleiner Piratensender. Der so genannte „Ried-Funk“ existierte bis Mai 1959, ehe er vom Abschnittsbevollmächtigten verboten wurde.

Herr Schaal, ihr Piratensender war illegal. Waren Sie sich dessen als Jugendlicher überhaupt bewusst?

Wissen Sie, die Musik spielte die entscheidende Rolle in unserer Zeit. Das Politische war erst einmal Nebensache. Schon in der Grundschule passierte mir Folgendes: In der Pause hörte ich im Geschäftszimmer der Schule Radio. Radio Luxemburg lief da auf Kurzwelle und die spielten wirklich schöne, leichte Musik. Da machte ich lauter, dass meine Freunde auch etwas davon hatten und rief: „Hört, was Radio Luxemburg Wunderbares spielt.“ Am nächsten Tag wurde ich zum Direktor gebeten, ich solle in Zukunft derartige öffentliche Ausrufe bitte unterlassen. Das war vielleicht auch die einzige ansatzweise politische Auseinandersetzung, die ich hatte. (lacht) Ansonsten sah man auch das mit der Westmusik noch nicht so kriminell. Erst Mitte 1958 wurde eine Quote im Hörfunk festgeschrieben: 60 Prozent DDR-Musik, 40 Prozent West-Titel. Ab 1959 durfte man dann öffentlich keine Westsender mehr hören.

Wie sah damals ein typischer Sendetag von ihnen aus?

Ich sendete in der Regel einmal die Woche, zum Sonntag. Es war damals so, dass die
Rundfunkanstalten zum Sonntag nicht sendeten. Vormittag spielte meistens Musik aus der Kirche, die relativ schwer war. Aber Schlager suchte man vergebens. Die Leute wollten das aber gerne hören und so hab ich angefangen. Von 9 Uhr früh bis 14 Uhr am Nachmittag. An sich nur Musik, ab und zu mal eine Ansage. Wenn jemand Geburtstag hatte, gab es auch schon mal Glückwünsche. Sehr beliebt war auch das Wunschkonzert. Die Leute sagten mir, was sie hören wollen und am Sonntag liefen dann diese Lieder im Radio.

Wie viele Leute erreichte ihr Programm, der „Ried-Funk“, eigentlich?

Gedacht war es zunächst nur für unsere Hausgemeinschaft. Im Sommer saßen wir draußen und ich dachte mir, dass es jetzt schön wäre, gemeinschaftlich Musik zu hören. Dann wurde es Winter und die Leute wollten Sonntag auch zu Hause Musik hören. Also sendete ich auf Mittelwelle 800 und war für fast alle, je nach Wetterlage, in Rabenstein empfangbar. Die Frequenz habe ich gewählt, weil die 800 genau in der Mitte der MWSkala war und so leicht für jeden zu finden. Immer öfter hörte ich dann Leute über den Sender sprechen, die auch außerhalb unserer Straße wohnten.

Eines Tages wollte mein Vater zu einem unserer Nachbarn, der etwas entfernt wohnte. Da sagte ich „Papa, der hat den ‚Ried-Funk‘ an, das weiß ich.“ Und so machte ich eine Radio-Durchsage und eine halbe Stunde später stand besagter Nachbar vor unserer Tür. Manchmal bin ich am Sonntag auch mit dem Rad durch Rabenstein gefahren und habe gelauscht, wer mein Programm empfängt.

Woher bekamen Sie ihr Sendematerial, jene leichte Musik aus dem Westen?

Das habe ich alles selbst aufgezeichnet. Ich hatte zuhause einen UKW-Empfänger und eine sehr gute, drehbare Antenne auf dem Dach. So konnte ich neben dem Bayrischen auch den Hessischen oder den Norddeutschen Rundfunk empfangen. Die Aufnahmen unterschieden sich, je nach Wetter und Sendestärker der einzelnen Sender. Da zeichnete ich also diverse Westmusik auf Magnetband auf und schickte sie dann über den „Ried-Funk“. Manchmal waren auch DDR-Titel gewünscht, so dass ich zum Teil sehr viel spulen musste, auf einem 90-Minuten-Band, bis ich jeden Wunschtitel gefunden hatte. Glücklich war, dass die Leute durch den Wochen-Rhythmus meistens nicht mehr so genau wussten, was letzten Sonntag lief. So konnte ich auch einfach mal ein Band durchlaufen lassen.

Hatten Sie Angst vor Konsequenzen, als Ihnen das Verbot erteilt wurde?

Nein, zu keinem Zeitpunkt. Für mich war es ein Spaß und die Leute hatten Gefallen daran. Außerdem war ich mit 15 Jahren noch nicht strafmündig. Ich sah auch keinen Grund, nach dem Verbot noch einmal irgendwie zu senden. Mich faszinierte die Technik sowieso und es boten sich mir dann schon wieder neue Möglichkeiten.

Spielten Sie nach dem Verbot noch einmal mit dem Gedanken, weiter illegal zu senden?

Nein, eigentlich nicht. Der „Ried-Funk“ war sozusagen keine Herausforderung mehr. Ich konnte mein Wissen anderweitig nutzen. So wurde ich zum Beispiel bei den Arbeiterfestspielen 1959 eingesetzt, den Ton zu machen. Der „Ried-Funk“ war quasi Startschuss für eine staatliche Förderung. Ich kam plötzlich an Technik heran, zu der ich als Laie nie Zugang gefunden hätte. Die Leute kannten mich nun durch den „Ried-Funk“ und so kamen sie zu mir, wenn mal ein Radio kaputt war. Das wurde herum erzählt und entwickelte sich so zu einem Selbstläufer.

Haben Sie je von einem anderen „Piraten“ gehört, der ein ähnliches Projekt betreute?

Leider nicht. Ich habe damals immer gesagt: „Wenn einer das noch mal macht, dann gehe ich hin und gebe ihm 1.000 Mark. Das hat mich eigentlich gewundert, denn später hätte auch jemand auf UKW senden können. Ich habe schon während der Zeit des „Ried-Funk“ eine UKW-Antenne gebaut und hätte damit drei weitere Stadtteile beschallen können. Diese Antennen wurden jedoch 1959 verboten. Würde heute jemand fragen, ob wir das noch einmal machen können, würde ich sagen: „Gib mir eine Woche und ich bau dir einen Fünf-Kilowatt-Sender hierher, den jedes UKW-Radio empfängt.“ (lacht) Wenn es andere Piratensender gegeben hat, waren diese wahrscheinlich auch regional sehr begrenzt. Denn je weiter die Verbreitung, desto größer die Gefahr erwischt zu werden.

„Das alles ist 50 Jahre her und so verbissen war das damals alles noch gar nicht“, gibt mir der äußerst höfliche ältere Herr noch mit auf den Weg. „Man ließ mich ja machen“, sagt Herr Schaal und erklärt mir dann, dass er bei seiner Arbeit in der Stadthalle Chemnitz auf Wunsch die beste Technik aus dem Westen bekam. Einzig das Ausreiseverbot habe ihn sehr gestört. Vor allem als ihn 1981 ein gewisser Jürgen Drews, dessen Tour er als Tontechniker begleitete, fragte, ob er nicht mit nach München kommen wolle. Dieter Schaal musste dankend ablehnen. So mache ich mich auf den Weg und verlasse die Straße „Am Ried“, die dem Piratensender seinen Name gab. In Erinnerung bleiben wird mir eine äußerst lebhafte Geschichtsstunde, die mit Hollywood wenig zu tun hat, jedoch die Welt von vor 50 Jahren für mich ein klein wenig greifbarer macht.

Bildergalerie: „Westmusik auf Magnetband“ – Technische Raritäten aus der Sammlung von Dieter Schaal.

<h3>Florian Tillack</h3>

Florian Tillack