Fernab der Zeitungsregale findet man journalistische Produkte, die schon ihrer Entstehungsumstände wegen interessant sind. Ob Verkauf in den Straßen oder Redaktion hinter Gittern: Die Nachfrage nach außergewöhnlichen Konzepten ist ungebrochen.
Wer in einen Bahnhofskiosk geht, tut dies häufig auf der Suche nach einem speziellen Magazin und orientiert sich dabei an altbekannten Kategorien: „Automobile”, „Haus und Heim”, „Computer”, „News”, oder „Lifestyle“. Verlagen bietet sich so die Möglichkeit, sehr fein differenzierte Produkte anzubieten. Auf den Straßen deutscher Städte ist jedoch seit inzwischen zwanzig Jahren eine Sparte zu finden, die man am Kiosk vergeblich sucht: die Straßenzeitung. So findet man zum Beispiel auf dem Leipziger Markt Menschen, die einem eine „KiPPE” zum Preis von einem Euro und sechzig Cent anbieten. Es handelt sich um Leipzigs „sozial engagierte Straßenzeitung”, vertrieben von Menschen in sozialer Not.
„Kopfstein-Kiosk“ für Leser mit sozialer Einstellung
Ein besonders häufiges Missverständnis klärt Projektleiter Björn Wilda gleich zu Beginn unseres Telefonats: „Die ‚KiPPE‘ wird nicht von Obdachlosen verkauft. Unsere Straßenverkäufer sind Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht sind sowie Rentner, Langzeitarbeitslose und Hartz-IV-Empfänger.” Wie bei den meisten Straßenzeitungen arbeiten die Verkäufer allerdings nur selten direkt am Inhalt. „Die redaktionelle Arbeit wird von zwei fest angestellten Redakteuren erledigt, die auch journalistisch ausgebildet sind. Außerdem haben wir einige ehrenamtliche Helfer: zum Teil auch Freiberufler.” Die Anzahl der überwiegend ehrenamtlichen Journalisten variiert zwischen den Zeitungen ebenso stark wie deren thematische Ausrichtungen. „Die Themen betreffen natürlich vornehmlich die Stadt und das Leipziger Umland. Wir beschäftigen uns mit sozialen Angelegenheiten, aber auch Kultur und Geschichte. Das führt auch gelegentlich zu Serien. Zum Beispiel arbeiten wir, anlässlich der ‚Leipziger Buchmesse‘, an einer Serie über Leipziger Verlage. Und unsere Reihe über die Leipziger Straßenbahn ist inzwischen mehrjährig.”
Neben kulturellen und sozialen Themen finden auch immer wieder Theaterrezensionen und Buchbesprechungen ihren Weg in die Zeitung. Schließlich, so Wilda, sei die „KiPPE” keine Zeitung für Obdachlose: „Unsere Zielgruppe sind sozial eingestellte Besserverdienende. Menschen, die mit dem Kauf der Zeitung etwas Gutes tun wollen und sich für unsere Inhalte interessieren.” Bei der Zusammenstellung der Inhalte werden von Zeit zu Zeit auch Vorschläge von außen in die Monatsplanung eingearbeitet.
Hilfe zur Selbsthilfe
Die „KiPPE” wurde im Sommer 1995 vom Verein für Wohnungslosenhilfe gegründet, bevor das Suchtzentrum Leipzig 2001 die Trägerschaft übernahm. Der zwanzigste Geburtstag der Zeitung steht somit für das kommende Jahr an. Auffällig ist, dass auch „Asphalt Magazin“ (Hannover), „Hinz&Kunzt“ (Hamburg) und der „Strassenfeger“ (Berlin) aus dieser Zeit stammen. Björn Wilda sieht den Grund in den Folgeerscheinungen der deutschen Wiedervereinigung: „Die Massenarbeitslosigkeit und ein Ansteigen der Armut, auch das Phänomen der Altersarmut, gab es in den neuen Bundesländern erst ab circa 1990. Somit entstand auch die Notwendigkeit, den Betroffenen zu helfen und ihnen ein Sprachrohr zu geben.” Zu helfen bedeutet dabei in erster Linie, den Menschen einen Ausweg aus der Isolation zu bieten. Sie haben durch die Kippe die Möglichkeit, in eine Tagesstruktur zu finden und im Betrieb betreut zu werden. Einmal monatlich gibt es darüber hinaus einen Verkäufertreff, bei dem sich die Teilnehmer austauschen können. „Hilfe zur Selbsthilfe”, wie Björn Wilda sagt.
Nur kleine Geschwister des großen Journalismus?
Sieht man sich die Organisationsweisen verschiedener Straßenmagazine an, kommt man leicht auf den Gedanken, es handle sich um verkleinerte Verlage. Hier lauert ein Irrtum: So teilen zum Beispiel weder die „KiPPE”, noch das hannoversche „Asphalt Magazin“ die Absatzprobleme ihrer großen Geschwister. Sie verzeichnen vielmehr eine steigende Popularität.
Diese Entwicklung lässt sich durch öffentliche Präsenz fördern: zum Beispiel beim „Tag der Sachsen”, dem „Classic Open” und durch das Neujahrssingen im „Leipziger Anker e.V.”. Zum ersten Mal stand dabei dieses Jahr auch ein „KiPPE”-Straßenverkäufer auf der Bühne. Thomas Bach ließ sich dafür vorab von Sebastian Krumbiegel, einem Sänger der Leipziger Band „Die PRINZEN”, trainieren. „Durch solche Aktionen erreichen wir eine höhere Akzeptanz bei den Leuten und können ihnen die Notwendigkeit unseres Projekts bewusst machen. Das äußert sich in Abonnements und Leserbriefen. Auch was die Sponsoren betrifft, haben wir zulegen können.” Für Unterstützer sind sozial engagierte Projekte natürlich auch prestigeträchtig: je besser die Wahrnehmung des Mediums, desto positiver der Image-Zuwachs.
Unterstützung finden Straßenzeitungen auch manchmal in Form von Kampagnen großer Werbeagenturen. Gerne auch durch Comics wie den „Superpenner”, der inzwischen zu einem wahren Social-Media-Phänomen avanciert. Die Figur war eine Idee der Agentur „Scholz & Friends” und hat sich für die Straßenzeitung zum Aushängeschild entwickelt. Anders als häufig angenommen wird, ist es übrigens nicht so, dass Spartenprodukte mit wenigen Angestellten auf multimediale Inhalte verzichten müssen. Das belegen beispielhaft die Facebook-Präsenz der „KiPPE” und „KiPPE TV”:
Und es gibt weitere Vorteile, die kleinere Spartenprojekte gegenüber großen Publikationen haben. Zum Beispiel die überschaubaren Redaktionen, die ohne komplexe Hierarchien funktionieren und somit ein unkompliziertes Arbeiten ermöglichen. Darüber hinaus sorgt der monatliche Rhythmus für einen enormen Spielraum: „Ich war selbst bei einer Tageszeitung angestellt und kenne die Ansprüche und den täglichen Druck, topaktuell zu sein. Bei der „KiPPE” können wir uns viel mehr Zeit für die Themen nehmen und viel gründlicher recherchieren.”
Dafür haben die meisten Straßenzeitungen keine eigenen Anzeigen- und Fotoredaktionen. Das erhöht natürlich einerseits den kreativen Eigenanteil, andererseits bedeutet es aber auch noch mehr Aufwand. Apropos Anzeigenredaktion: Wie gestaltet sich eigentlich der Umgang mit Anzeigekunden bei Straßenmagazinen? „Wir haben einige Stammkunden, die uns diesbezüglich schon seit Jahren die Treue halten. Da wären zum Beispiel die Handwerkskammer und das Smartcenter Leipzig, aber auch andere Verlage aus der Region, die unser Projekt unterstützen. Wir wissen trotzdem, dass es nötig ist, sich ständig um neue Anzeigenkunden zu bemühen”, so Wilda.
Ein empfindliches Geschäft
Hinsichtlich der veröffentlichten Auflage sind die sorgsam kalkulierten Straßenzeitungen jedoch sehr sensibel. Helmut Jochens, Vertriebsleiter des „Asphalt Magazins“, erläutert: „Unsere Verkäufe zwischen 2008 und heute waren insgesamt relativ stabil. Innerhalb eines Jahres haben wir allerdings hoch-variable Auflagen.“ Man könne das zum Beispiel jahreszeitbedingt betrachten: „Die um Weihnachten erscheinende Dezemberauflage markiert unsere stärkste Zeit, da das Mitgefühl und soziale Engagement der meisten Menschen in dieser Zeit höher ist. Der Februar hingegen stellt für uns jedes Jahr die schwierigste Zeit dar.” Auch das Wetter, eventuelle Ferien und Feiertage seien Faktoren. So entscheide sich jeden Monat von Neuem, wie viele Exemplare des „Asphalt Magazins“ gedruckt werden. Eine Leserbefragung, die vom „Asphalt Magazin“ selbst durchgeführt wurde, demonstriert auf interessante Weise das Verhältnis der Leser zum Medium.
Hiobs-Botschaft
Im Gegensatz zur „KiPPE” handelt es sich beim „Asphalt Magazin” um ein Produkt der alten Bundesländer. Auf die Frage nach der Situation im Gründungsjahr verweist Vertriebsleiter Helmut Jochens, vielleicht deshalb, nicht zuerst auf die Wiedervereinigung, sondern auf die britische „Big Issue”. Sie sei den Zeitungen in deutschen Großstädten wie München, Berlin und Hamburg ein Vorbild gewesen. Das „Asphalt Magazin” ging übrigens aus einer wortwörtlichen Obdachlosen-Zeitung hervor, die von der hannoverschen Initiative obdachloser Bürger, kurz „HIOB”, herausgegeben wurde: geschrieben mit der Schreibmaschine, kopiert und getackert. Helmut Jochens meint: „Hätte damals nicht der Leiter des Diakonischen Werks das Projekt unterstützt, wäre es wohl nicht von langer Dauer gewesen. Man muss sich vor Augen halten, dass schon ein regelmäßiger Treffpunkt für Obdachlose nicht selbstverständlich ist.”
Helmut Jochens erwähnt übrigens ein Problem, das symptomatisch für die meisten Straßenzeitungen ist: eine hohe Fluktuation im Vertrieb. „In Hannover sind relativ konstant einhundert plus minus fünfzehn Verkäufer auf der Straße. Die Gesichter wechseln jedoch häufig, da manche schon nach einem Monat feststellen, dass sie sich für diese Beschäftigung nicht geeignet fühlen.”
Journalismus hinter schwedischen Gardinen
Damit ist eine optimale Überleitung zu einer Sparte geschaffen, deren „Fluktuation” staatlich genauestens kontrolliert ist. Gefangenenzeitungen wie „Der Riegel” der „JVA Dresden” oder „Der Lichtblick” der „JVA Berlin-Tegel” leisten einen Beitrag zur Resozialisierung und bieten den Häftlingen ein Sprachrohr. Mit Erfolg: „Der Lichtblick” ist die auflagenstärkste Gefangenenzeitung Deutschlands und erscheint durchgängig seit 1968. Veröffentlicht wird er momentan mit einer Auflage von 8500 Stück, vier bis sechs Mal pro Jahr: wohlgemerkt unzensiert.
„Der Lichtblick” ist eine von rund 60 in Deutschland erscheinenden Gefangenenzeitschriften, die in knapp 170 Justizvollzugsanstalten gedruckt werden. Die Arbeit an der Zeitung bereichert den Haftalltag: Die Insassen sind für Recherche, Redaktion und Produktion selbst zuständig. Im Gegensatz zu den Straßenzeitungen unterscheiden sich die Produktionsbedingungen in der „JVA” allerdings deutlich von regulärer Verlagsarbeit: Schließlich könnte die Gefängnisleitung, theoretisch, jederzeit die Redaktionsräume durchsuchen. Auch der Verzicht auf Zensur ist im „Lichtblick” einzigartig. Diese Freiheit ist jedoch relativ zu betrachten: Schließlich besteht eine direkte Abhängigkeit zwischen Redaktion und Gefängnisleitung. Das Budget beläuft sich auf 5000 Euro plus Porto. Alle weiteren Kosten müssen über Spenden gedeckt werden. Nicht zuletzt obliegt es der Gefängnisleitung trotz aller Kooperation, die Publikation jederzeit zu stoppen. Einheitlich für fast alle Gefangenenzeitungen ist der Anspruch, sich im Interesse aller Häftlinge in öffentliche Debatten einzumischen, die den Strafvollzug betreffen. Auf „Knast.Net” findet sich übrigens eine Liste mit weiteren Gefangenen-Publikationen und den entsprechenden Websites.
Die häufig vergriffenen Auflagen von Straßen- und Gefangenenzeitungen zeugen davon, dass Spartenjournalismus sehr zielsicher den Weg zu seinen Lesern findet. Interessant wäre zudem eine Verbreiterung der Zeitungen auf multimediale Kanäle, um Lesern und Verlegern noch mehr Möglichkeiten zu bieten.
Text: Clemens Sebastian Arnold; Titelfoto: Martin Neuhof – Straßenzeitung KiPPE; Fotos: Asphalt gemeinnützige Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH vertreten durch Herrn Helmut Jochens; Video: Eigentum des SAEK Förderwerk für Rundfunk und neue Medien gGmbH, Projekt KiPPE-TV