Zukunft des Lokaljournalismus

„Wer Ihnen erklären will, wie es in 20 Jahren aussieht, lügt“

von | 10. Januar 2020

Freie Presse-Chefredakteur Torsten Kleditzsch über Herausforderungen für Lokalzeitungen.

Vor welchen Herausforderungen steht der Lokaljournalismus? Und wo wird er in 20 Jahren stehen? Mit Freie Presse-Chefredakteur Torsten Kleditzsch hat medienMITTWEIDA über diese und andere Fragen gesprochen. Kleditzsch, der an der Universität Leipzig Internationale Beziehungen und Ausländisches Recht studiert hat, leitet seit 2009 die Redaktion der Freien Presse. Außerdem ist er Mitglied der Jury für den Medienpreis des Deutschen Bundestages.

Herr Kleditzsch, wann haben Sie selbst zuletzt als Lokaljournalist gearbeitet?

Torsten Kleditzsch: Das kommt darauf an, was Sie darunter verstehen. Wir produzieren täglich Stoff für 19 Lokalteile und das dazugehörige Internetangebot. Insofern sehe ich mich als Lokaljournalist, der sich, wenn nötig, auch direkt einbringt. Wenn Sie aber fragen, wann ich zum letzten Mal in einer Lokalredaktion gearbeitet habe, dann ist das lange her. Das war während meines Studiums im Rahmen einer freien Mitarbeit.

Während Ihrer freien Mitarbeit: Was hat für Sie das Arbeiten als Lokaljournalist ausgemacht?

Kleditzsch: Als Lokaljournalist ist man sehr unmittelbar an den Themen, an den Menschen, über die man berichtet. Und man erhält auch das Echo sofort zurück. Zugleich ist die eigene Arbeit kontrollierbarer und nachprüfbarer als die – sagen wir – eines Auslandskorrespondenten. Denn viele Dinge, über die der Lokaljournalist berichtet, kann der Leser mit eigenen Augen nachvollziehen und sich danach ein eigenes Bild darüber machen. Deshalb kann ein Lokaljournalist gar nicht erst auf die Idee kommen, sich irgendetwas auszudenken.

Wie hat sich die Arbeit eines Lokaljournalisten in den letzten Jahren verändert?

Kleditzsch: Es ist einfacher zu sagen, was geblieben ist: Die Suche nach der guten Geschichte – interessant und bedeutsam für die Leser und gut geschrieben. Aber alleine bei der Frage, wie man sie aufschreibt und recherchiert, hat sich die Welt komplett verändert. Auf der einen Seite stehen neue Recherchemöglichkeiten durch das Internet und Social Media, auf der anderen veränderte Arbeitsprozesse in den Redaktionen. Als ich vor knapp dreißig Jahren freier Mitarbeiter war, standen die Computer noch nicht lange in den Redaktionen. Und das Internet, so wie wir es heute kennen, gab es noch nicht.

Nicht nur das Arbeiten ist anders: Wie hat sich die Situation für Regional- und Lokalzeitungen wie der Freien Presse am Markt geändert?

Kleditzsch: Wirtschaftlich haben wir natürlich seit 1990 damit zu kämpfen, dass die Printauflage kontinuierlich sinkt. Das hat verschiedene Ursachen: die demografische Entwicklung in Ostdeutschland, das veränderte Medienverhalten, das sinkende Zeitbudget und die attraktive Konkurrenz außerhalb journalistischer Medien, für die man weniger Energie aufwenden muss als eben für ein journalistisches Angebot wie uns. Zudem ist, wie bei anderen Medienhäusern auch, der Anteil der Anzeigenfinanzierung zurückgegangen. Weil wir aber gut gewirtschaftet haben, besitzen wir auch das Potenzial, mit diesen Veränderungen vernünftig umzugehen.

Und wie reagieren Sie auf diese Situation?

Kleditzsch: Im Vordergrund muss die journalistische Kompetenz stehen, denn darauf baut unser Geschäftsmodell auf. Glaubwürdigkeit und Bedeutsamkeit sind der Kern. Zum anderen steht die Herausforderung, die Digitalisierung nicht nur mitzumachen, sondern daraus auch einen Gewinn zu ziehen. Denn der Anteil des digitalen Geschäfts muss zwingend wachsen – und das möglichst nicht auf die Art und Weise, dass das traditionelle Geschäft zurückgeht. Das ist eine Aufgabe, die derzeit die gesamte Branche fordert.

Dabei geht es nicht nur um zeitgemäße Informationsangebote, sondern auch um die schon erwähnte Konkurrenz mit den Zeitfressern unserer Tage, die hoch professionell um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Simpel gesagt: Die Konkurrenz zwischen Netflix und freiepresse.de, eine Herausforderung, die es früher so nicht gab. Und sie wächst bei den jungen Menschen, grob gesagt unter 30, weil dort Studien zufolge die Fähigkeit und Bereitschaft deutlich sinkt, textgestützte Informationen in größerem Umfang aufzunehmen. Dort sind Audio und Video unerlässlich.

Apropos junge Leute: Laut Ihrer Mediadaten erreichen Sie als größte Zielgruppe die Generation 50+. Und im Kampf um die junge Zielgruppe gibt es starke und kostenlose Konkurrenz, zum Beispiel Tag24. Wie wollen Sie die jüngere Zielgruppe in Zukunft erreichen?

Kleditzsch: Tag24 ist zwar ein interessantes Angebot auf dem Markt, aber keine Konkurrenz für das Geschäftsmodell der Freien Presse – jedenfalls nicht im Wettbewerb um Leser und User. Wir sehen uns als Medium, das Qualitätsjournalismus anbietet. Der finanziert sich nicht allein über Reichweite und Anzeigen, sondern vor allem auf dem Kundenmarkt. Und das funktioniert nur, wenn man Online-Nutzer dazu bringt, für Content zu bezahlen.

Wenn man sich die Abozahlen anschaut, dann stimmt die Aussage, dass wir vor allem die Generation 50+ erreichen. Für uns eine wichtige Zielgruppe, aber natürlich brauchen auch wir an dieser Stelle Nachwuchs. In den letzten Jahren standen bei uns deshalb vor allem junge Familien im Mittelpunkt unserer Überlegungen. Das wird auch ein wichtiger Fokus bleiben. Da steckt auf jeden Fall noch Potenzial. Hinzu kommt die Frage, welche journalistischen Angebote für die unter 30-Jährigen möglich sind.

Quelle: Mediadaten Freie Presse. Grafik: Paul Haubold.
 

Arbeiten Sie aktuell bereits an neuen Konzepten für jüngere Zielgruppen?

Kleditzsch: Wir leuchten im Moment aus, worauf wir uns in Zukunft konzentrieren, wo konkret die besten Entwicklungschancen liegen. Wir verbessern kontinuierlich unseren Webauftritt freiepresse.de und das Social-Media-Angebot.

Wie ist der Altersdurchschnitt bei den Online-Nutzern?

Kleditzsch: Auf jeden Fall jünger als bei Print. Eine genaue Zahl kann ich Ihnen aber nicht nennen.

Faktencheck Online-Nutzer

Laut Mediadaten der Freien Presse sind 80 Prozent der Nutzer zwischen 20 und 59 Jahre alt.

Zum Thema Social Media: Besonders aktiv ist die Freie Presse auf Facebook und Twitter. Seit kurzem bespielen Sie auch einen Instagram-Kanal. Wie ist dort gerade der aktuelle Stand?

Kleditzsch: Ja, das jüngste Kind ist der Instagram-Kanal, der von unseren Volontären bespielt wird. Ein Prozess und eine Möglichkeit, sich auszuprobieren, noch kein Reichweitenprodukt. Ich selbst bin eher auf Twitter aktiv. Sicher eine Frage des Alters.

Auf welchen Wegen erhalten Sie Feedback von Ihren jüngeren Lesern?

Kleditzsch: Wir nutzen natürlich, wie allen anderen auch, Informationen, die wir über Datenanalyse aus dem Verhalten der Nutzer gewinnen können. Außerdem haben wir in den vergangenen Jahren mehrere Umfragen unter den Lesern gemacht beziehungsweise deren Leseverhalten untersucht. Dabei haben sich die Erwartungen an eine Regionalzeitung im Kern nicht großartig zwischen den verschiedenen Altersgruppen unterschieden. Aber das heißt natürlich noch lange nicht, dass alle mit demselben Angebot zufrieden wären.

Die Dortmunder Journalistikprofessorin Wiebke Möhring hat in einem Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt, dass Sie noch nicht sehen kann, wo der Lokaljournalismus in 20 Jahren stehen wird und wie er sich finanzieren kann. Wo sehen Sie den Lokaljournalismus in 20 Jahren?

Kleditzsch: 20 Jahre sind ein so großer Zeitraum, dass Sie niemanden finden werden, der verlässlich und seriös eine Prognose geben kann. In der heutigen Zeit müssen wir generell mit weniger Gewissheiten auskommen. Es ist vernünftig, sich auf die nächsten drei bis fünf Jahre zu konzentrieren.

Das hat nichts mit Prognoseschwäche zu tun, sondern eher mit der rasanten Entwicklung von Technologien und daraus folgend dem Mediennutzungsverhalten. Deshalb muss man sich als regionales Medienhaus so aufstellen, dass man auf diese Veränderungen möglichst flexibel reagieren kann. Darin besteht heute die Kunst – nicht in Prognosen über 20 Jahre. Wer Ihnen ernsthaft erklären will, wie es in 20 Jahren aussieht, der lügt.

Lokaljournalismus haftet im Volksmund oft ein unliebsames Image an. Zum Beispiel, dass man nur von einem Kaninchenzüchterverein zum nächsten unterwegs ist. Was sagen Sie zu solchen Klischees?

Kleditzsch: Wer das sagt, hat die Freie Presse seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen. Und die meisten anderen Regionalzeitungen auch nicht. Das ist ein Klischee, das für gute und moderne Regionalzeitungen schon lange nicht mehr gilt. Wenn ich jetzt angehende Journalisten sehe, glaube ich, dass sie aktuell eine tolle Zeit haben, sich für regionale und lokale Medien zu interessieren. Zumindest dort, wo man weiterhin Wert auf den Inhalt legt.

Dort gibt es gerade einen großen Gestaltungsspielraum, die Chance, sich auszuprobieren und zu messen. Vor allem, weil die vorhin besprochenen jüngeren Zielgruppen natürlich weiter in den Fokus rücken. Deshalb brauchen wir junge Mitarbeiter mit neuen Kompetenzen und der Lust, etwas auf die Beine zu stellen.

Spüren Sie auch in den Lokalredaktionen Personalnot?

Kleditzsch: Üppig war es in den Lokalredaktionen noch nie. Im Moment hängt es stark von den Regionen ab, die richtigen Leute zu gewinnen. Wir sind permanent auf der Suche nach gut ausgebildeten Journalisten und müssen gleichzeitig stärker priorisieren, für welche Aufgaben wir welchen Aufwand betreiben.

Wie versuchen Sie als Arbeitgeber attraktiver für junge Journalistinnen und Journalisten zu werden?

Kleditzsch: Das Attraktivste ist meiner Einschätzung nach die Möglichkeit, selbst gestalten zu können, was man künftig tut. Wir lassen junge Journalisten sehr schnell Verantwortung übernehmen. Außerdem bieten wir auch gute Verträge, was das Finanzielle und Soziale betrifft.

Wofür brauchen wir überhaupt Lokaljournalismus?

Kleditzsch: Vor allem dafür, dass die Demokratie funktioniert. Das ist sozusagen die Draufsicht. Menschen sollen sich selbst eine Meinung bilden können, um daraus wiederum ihr eigenes Handeln, ihre Entscheidungen abzuleiten. Dafür muss man sich unabhängig informieren können, mehrere Perspektiven kennen.

Das gilt aber auch im Kleinen. Für die Entscheidungen, in welchem Stadtteil ich leben möchte, welche Schule ich mir aussuche, welche Firma vor Ort eine vielversprechende Entwicklung nimmt. Oder nur: Wo ich heute Abend vielleicht esse, tanze, einen Film schaue.

Und Lokaljournalismus hat zunehmend eine Dialogfunktion, bietet ein Forum, in dem man sich austauschen kann. So wie wir es zum Beispiel vor den Landtagswahlen getan haben oder nach den Ereignissen im August 2018 in Chemnitz. Wir erleben ja alle täglich, wie schwer es fällt, Fakten von Behauptungen zu trennen.

Dafür ist der Lokaljournalismus sehr wichtig, auch wenn er manchmal etwas länger braucht als die starke Meinung auf schwachem Fundament. Wahrheit braucht Recherche, um ihr so nahe wie möglich zu kommen. Und das wiederum verlangt einen gewissen Aufwand.

Zum Abschluss: Sie sind jetzt zehn Jahre Chefredakteur der Freien Presse. Können Sie sich vorstellen nach diesem Job selbst wieder „klassischer“ Lokaljournalist zu werden?

Kleditzsch: Als Chemnitzer Zeitung haben wir im letzten Jahr die Ereignisse und die daraus folgende Debatte rund um die Tötung eines jungen Mannes am Rande des Stadtfests wesentlich begleitet und auch gestaltet. Das war Lokaljournalismus pur mit internationaler Aufmerksamkeit.

Ob ich irgendwann wieder in eine Lokalredaktion wechsle? Man soll ja niemals nie sagen und ich schreibe immer noch gerne, habe höchsten Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen dort. Aber es wäre nicht wirklich mein Plan. Ich will dafür sorgen, dass die Kolleginnen und Kollegen so gut wie möglich ihren Job machen können.

Text: Paul Haubold. Titelbild: Christin Post. 

Meinung des Autoren

Wo bleibt die Vision?

Dem aktuellen Innovationswillen der Freien Presse nach zu urteilen, wäre es für regionale Medienhäuser am besten, wenn alle Social-Media-Kanäle abgestellt würden – und das Internet am besten gleich mit. Der entscheidende Denkfehler: Die Mediennutzungsgewohnheiten der jungen Zielgruppe werden sich mit dem Alter irgendwie zu denen ihrer Eltern entwickeln. Ab 40 werden sich schon alle an Mama und Papa erinnern und ein Print- oder E-Paper-Abo abschließen.

Doch wir, die junge Zielgruppe, sind es schon lange nicht mehr gewohnt, für Informationen zu bezahlen. Geschweige denn, unseren Insta-Feed dafür zu verlassen. Irgendwie soll alles digitaler werden – das scheint die Chefredaktion verstanden zu haben. Und was sind die Maßnahmen? Der Instagram-Kanal wird an die Volontäre abgeschoben. Genaue Informationen über die Nutzer des Onlineauftritts gibt es nicht.

Da fragt man sich: Wo ist die Vision, an der sich alles ausrichtet? Jeder Start-Up-Gründer muss einem Investor in einem Satz erklären können, wo er in 15 Jahren stehen will. Und auch, wenn es unklar ist, auf welchem Kanal Lokaljournalisten in 20 Jahren unterwegs sein werden, könnte die Vision sein: „Wir wollen die Leser immer da erreichen, wo sie es wollen. Und das mit allen Besonderheiten, die dieses Medium bietet.” Es muss eine Leitidee her, die langlebiger als ein Jahr ist. Ansonsten helfen nur noch Verlagslobby-Internetzensur-Beschlüsse à la Artikel 13.

<h3>Paul Haubold</h3>

Paul Haubold

ist 20 Jahre alt, studiert Medienmanagement und leitet seit Semesterstart das Ressort Media. Außerdem ist er Volontär an der Mitteldeutschen Journalistenschule und Redakteur des Journalismus-Startups light up! News. Neben seiner journalistischen Arbeit ist Paul Haubold als Werkstudent für Pressearbeit beim ITK-Dienstleister Komsa tätig.