Triggerwarnung: Der folgende Text enthält detaillierte Beschreibungen von Zwangsstörungen, einschließlich Zwangshandlungen, -gedanken und damit verbundener emotionaler Belastungen. Wenn du Probleme mit diesen Themen hast, lies’ den Beitrag nicht alleine oder meide ihn ganz.
Die raue Haut an den Händen und die aufgeplatzten Fingerknöchel verraten ein unsichtbares Leiden. Ständiges Händewaschen – in der schlimmsten Phase bis zu 100 Mal am Tag – Oberflächen und Gegenstände stets sauber halten. Seit Jahren prägen diese Handlungen Kevins Alltag.
Zwangsstörungen – Ein Gedankenkarussell
Der 20-jährige Kevin Glatz leidet an einer Zwangsstörung (Zwangserkrankung) in Ausprägung eines Waschzwangs. Psychische Erkrankungen wie diese betreffen über zwei Prozent der deutschen Bevölkerung und stellen eine starke Beeinträchtigung für das Leben der Betroffenen dar. Sie haben den Drang, bestimmte Handlungen mehrfach durchzuführen oder Gedankengängen immer wieder zu folgen. Tun sie dies nicht, kann es zu extremen Unruhezuständen kommen. Dabei müssen sie einen und denselben stereotypen Ablauf immer und immer wieder ausführen, obwohl sie wissen, dass ihre Handlungen nicht sinnvoll sind. „Es ist ein Gedankenkarussell, dem man nicht entkommt”, sagt Kevin Glatz, den die Erkrankung schon seit drei Jahren begleitet.
Wiedersehen mit Folgen
Bei ihm hat es vor circa drei Jahren mit einem harmlosen Wiedersehen begonnen. „Ich habe damals einen alten Freund wieder getroffen. Den hatte ich seit Jahren nicht gesehen”, erzählt er. Doch das Wiedersehen wird dem jungen Mann zum Verhängnis. Sein Freund ist seit mehreren Jahren in der Drogenszene aktiv, konsumiert und verkauft auch Präparate. „Der Besuch bei ihm hat mich unfassbar ängstlich gemacht. Ich hatte Angst, dass ich Drogenrückstände an meinen Händen und an meinen Klamotten hatte”, erinnert sich Kevin. Aus Angst, die Rückstände mit nach Hause gebracht zu haben, beginnt der damals 17-Jährige verstärkt seine Hände möglichst lange und intensiv zu waschen. Aus einem Wiedersehen entwickelt sich bei ihm ein Waschzwang.
Waschzwang ist die häufigste Form der Zwangserkrankungen. Betroffene verspüren panische Angst oder Ekel vor Schmutz, Krankheitserregern oder Körperflüssigkeiten. Das Gefühl, schmutzig zu sein, führt dann zu stundenlangen Wasch- und Reinigungsritualen. „In meiner schlimmsten Phase habe ich mir bis zu 100 Mal am Tag die Hände gewaschen. Mit und ohne Seife”, erinnert sich Kevin. Die Folgen der ständigen Reinigung sind eine trockene, poröse Haut, durch die ein erhöhtes Risiko für Hautekzeme entsteht.
Weitere Formen einer Zwangserkrankung
- Kontrollzwang: Betroffene befürchten, durch Unachtsamkeit etwas Wichtiges vergessen zu haben, wie das Ausschalten des Herdes oder das Abschließen der Tür. Dies führt zu ständigen Überprüfen und Kontrollieren.
- Wiederhol- und Zählzwang: Erkrankte müssen alltägliche Handlungen in einer festgelegten Häufigkeit wiederholen oder Dinge immer wieder abzählen.
- Sammel- und Hortzwang: Betroffene Personen sammeln und horten Gegenstände, die eigentlich keinen Nutzen haben. Das kann dazu führen, dass ihr Zuhause zunehmend unordentlich und chaotisch wird.
- Ordnungs- und Symmetriezwang: Betroffene empfinden Unbehagen, wenn Objekte nicht symmetrisch oder ordentlich angeordnet sind. Sie verbringen oft Stunden damit, beispielsweise Gewürze nach dem Alphabet zu sortieren oder Wäsche millimetergenau zu falten.
Herausforderung für die ganze Familie
Kevin beginnt nicht nur seine Hände sauber zu halten, sondern auch alle Gegenstände, mit denen er in Kontakt kommt. „Wenn ich einen Teller frisch – und eigentlich sauber – aus dem Geschirrspüler genommen habe, habe ich ihn immer nochmal abgewaschen.” Das sei bis heute so. Der Zwang wurde mit der Zeit immer stärker, als er begann, auch Einrichtungsgegenstände, wie Sofa, Tisch und Stuhl, in seine Reinigungsrituale einzubeziehen. Im Haus seiner Eltern, wo er die meisten Probleme mit seiner Erkrankung hat, hat er bis heute einen eigenen Tisch. „Das ist nur mein Tisch und da darf auch niemand ran.” Wenn es dennoch passierte, dass jemand den Tisch berührte oder etwas darauf abstellte, habe er den Tisch mehrfach abgewischt. Der Holztisch wird Mittelpunkt seiner Aktivitäten. „Ich habe alles an diesem Tisch gemacht: gegessen, gearbeitet, Serien geschaut”, erinnert er sich. Das verändert auch die Beziehung zu seinen Eltern, die er in seine Rituale eingebunden hat. „Für meine Eltern war es eine belastende Zeit, weil sie ständig – meinetwegen – auf alles achten mussten.” Es sei öfter zu Auseinandersetzungen mit seinen Eltern gekommen, weil sie seine Ängste nicht nachempfinden konnten.
Die deutsche Gesellschaft für Zwangserkrankungen e.V. informiert Angehörige von Zwangserkrankten auf ihrer Website über mögliche Verhaltensempfehlungen. Grundsätzlich sollten sich Angehörige nicht in das Zwangsritual einbeziehen lassen. Das würde die Situation nur scheinbar verbessern. Tatsächlich gibt die betroffene Person nur die Verantwortung für eventuell eintretende Katastrophen ab und lernt nicht, sich mit den Ängsten auseinanderzusetzen.
Seit seiner frühen Kindheit bestimmen den Alltag von Kevin Glatz Zwangsstörungen. Obwohl er weiß, dass die Handlungen unsinnig sind, kann er sie nicht lassen. Foto: Lea Scheffler
Die Wurzeln der Erkrankung
Die genauen Ursachen einer Zwangserkrankung sind noch unklar. Es wird allerdings vermutet, dass genetische Faktoren und eine gestörte Balance von Botenstoffen im Gehirn die Hauptursachen sind. Aber auch Persönlichkeitsmerkmale, einschneidende Lebensereignisse und Lernerfahrungen aus der Erziehung können bei der Entstehung einer Zwangserkrankung eine Rolle spielen.
Bei Kevin begann die Zwangserkrankung schon im frühen Kindesalter. Bereits in der Grundschule entwickelte er einen Zählzwang. „Ich habe immer alles sieben Mal nachgefragt und die Türklinke immer drei Mal berührt, bevor ich die Tür öffnen durfte”, erinnert er sich. Er habe damals versucht, die starken Verlustängste um seinen Vater mit den ständigen Nachfragen zu kompensieren. Dass die Zwänge schon im Kindesalter auftreten, sei nicht ungewöhnlich, erklärt Karsten Hollmann. Er leitet die Spezialambulanz für Zwangsstörungen am Universitätsklinikum Tübingen und informiert auf dem YouTube-Kanal des Uniklinikums über Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Er klärt darüber auf, dass mindestens 30 bis 50 Prozent der Erwachsenen mit Zwängen diese bereits seit der Kindheit haben und unbedingt therapiert werden müssen.
Gefühl der Bedrohung
Neben den Zwangshandlungen gehören auch Zwangsgedanken zur Erkrankung. Diese treten häufig in Kombination mit einer ritualisierten Handlung auf. Es sind Ideen und Vorstellungen, die sich ohne den Willen der betroffenen Person aufdrängen und als unangenehm und quälend empfunden werden. Bei einer Untergruppe der Betroffenen treten vorrangig aufdringliche Gedanken auf – meist mit aggressiven, sexuellen oder religiösen Inhalten.
Auch Kevin leidet zusätzlich an Zwangsgedanken kombiniert mit einer Angststörung, die sein Leben bestimmen. Seine Gedanken drehen sich stets um den Tod. „Mein Gehirn gaukelt mir immer vor, wenn ich dies oder jenes nicht mache, dann sterbe ich”, erklärt er. Besonders im Alltag, wenn er keine Ablenkung hat, kreisen die Gedanken um vergangene Handlungen. „Heute Morgen habe ich ein Messer im Messerblock verstaut, seitdem drehen sich meine Gedanken, dass ich mir die Pulsader hätte aufschneiden können, wenn ich nicht vorsichtiger gewesen wäre.” Es sei ein ständiges Gefühl der Bedrohung.
„Es vergehen keine fünf Minuten, in denen ich keine Zwangsgedanken habe. Mein ganzer Tag ist damit gefüllt”
Kevin Glatz
Seine Gedanken, so erzählt er, drehen sich um bereits vergangene Situationen. „Wenn meine Vergangenheit gelöscht werden könnte, wären all meine Probleme gelöst”, sagt er. Einige Tage nach seinem Gespräch mit medienMITTWEIDA gesteht er, dass er mehr als 50 Mal zwanghaft an die Situation mit dem Messerblock gedacht hat.
„Ich würde am liebsten meine Haut von mir abschälen“
Was es bedeutet, mit einer Zwangserkrankung zu leben, weiß auch Alexandra Schrödter* aus Leipzig. Bei ihr ist es der ständige Perfektionismus, der ihren Alltag beherrscht. „Mein Schriftbild muss immer perfekt sein. Wenn mein Stift streikt, kann ich das Blatt Papier nicht weiter beschreiben”, erzählt sie. Das Blatt Papier, das sie im Interview mit medienMITTWEIDA in die Kamera hält, sieht aus wie gedruckt. Damit sie keine Unmengen an Papier verschwendet, beginnt sie, ihren Stift mittels kleinem Strich am Daumen zu testen. „Das ist mein Kompromiss, um nicht jedes Mal von vorne beginnen zu müssen”, sagt sie.
„Dem Maßstab an mich selber, werde ich nicht gerecht.”
Alexandra Schrödter*
Auch im Alltag wird die 28-Jährige von ihrem Perfektionismus in Form eines Ordnungs- und Symmetriezwangs kontrolliert. In ihrer Stimme schwingen viel Leid und Schmerz mit, wenn sie über ihre Erkrankung spricht. Jeder Gegenstand in ihrer Wohnung hat einen festen Platz. „Es muss immer alles ordentlich und gerade sein”, sagt sie. Der wöchentliche Supermarktbesuch ist für Alexandra jedes Mal aufs Neue eine große Hürde. „Die vielen Entscheidungen, die man treffen kann und die Anordnung der Regale bringen mich total aus der Ruhe”, beschreibt sie. Ihre Strategie: Seit Monaten schreibt die Studentin ihre Einkaufslisten sehr genau. „Ich beschreibe das Produkt, was ich kaufen will, sehr genau. Marke, Farbe und auch wie die Verpackung aussieht.” Auch die Labels auf Lebensmittelverpackungen, wie die Aufkleber am Obst, stören sie. Neu gekaufte Lebensmittel füllt sie daher in einen anderen Behälter um, den sie vorher selbst fein säuberlich beschriftet hat. „Das bedeutet wahnsinnig viel Stress und nimmt viel Zeit in Anspruch”, erzählt Alexandra. Noch mehr Stress empfindet sie allerdings, wenn sie den Zwängen nicht nachgibt. Dann, sagt sie, quälen sie absolute Unruhe und existenzielle Angst. „Ich würde in solchen Momenten am liebsten meine Haut von mir abschälen”, beschreibt sie.
Damit das Schriftbild von Alexandra perfekt aussieht, testet sie den Stift jedes Mal vorher an ihrem Daumen. Foto: Alexandra Schrödter*
Durch Therapie Lebensqualität zurückgewinnen
Seit Kevin mit einer regelmäßigen Therapie begonnen hat, hat sich einiges geändert. „Ich weiß jetzt viel besser, wie ich mit meinen Zwängen umgehe”, sagt er. Eine Zwangsstörung ist eine chronische Erkrankung und nur schwer behandelbar. Die Zwangssymptome können auf ein erträgliches Maß heruntergeschraubt werden, sodass ein weitgehend normaler Alltag wieder möglich ist. Vollständig geheilt werden jedoch nur die Wenigsten. Um zu lernen, wie man mit den Zwängen umgeht, empfiehlt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine kognitive Verhaltenstherapie. Bei dieser Therapieform stellen sich die Betroffenen in therapeutischer Begleitung ihren Reizen, die üblicherweise die Zwänge auslösen. „In einem Gespräch durfte ich dann nur einmal nachfragen, obwohl ich fünf Mal nachfragen möchte”, erinnert sich Kevin an seine Sitzungen. Während sich dann ein ungutes Gefühl bei ihm einstellte, weil er seinen Zwängen nicht nachgekommen war, sollte er die Angst aushalten, bis diese sich in ein anderes Gefühl umwandelte. „Bei mir wandelt es sich immer in Wut um. Das macht man dann so lange, bis die Wut vorübergeht und irgendwann kommt dann nichts mehr”, sagt er. Kevin beschreibt es als einen „sehr passiven Prozess, der aber sehr hilft”.
Auch Alexandra* hat eine Therapie begonnen. Bei ihr sind es Medikamente, die ihr helfen, mit ihrer Erkrankung umzugehen. „Ich wollte nie Medikamente nehmen, aber seitdem ich sie nehme, geht es mir viel besser”, erzählt sie. Der medikamentöse Behandlungsansatz basiert auf der Annahme, dass Zwangserkrankungen durch ein Ungleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn ausgelöst werden. Insbesondere betrifft das den körpereigenen Botenstoff Serotonin, welcher Informationen zwischen den Nervenzellen überträgt. Folglich werden daher sogenannte Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) verwendet, die die gestörte Impuls-Weitergabe im Gehirn wieder ins Gleichgewicht bringen.
Heute hat der 20-jährige Kevin verschiedene Strategien entwickelt, mit denen er besser mit seinen Zwängen umgehen kann. „Ich habe mir angewöhnt, dass ich die finsteren Gedanken an mir vorbeiziehen lasse. Es sind Gedanken und Emotionen, die irgendwann vorbeigehen“, sagt er. Auch Alexandra spricht von düsteren Gedanken, denen man nicht so viel Beachtung schenken sollte. „Der Weg ist hart, aber er ist es wert, denn man gewinnt eine unglaubliche Lebensqualität und Ruhe im Alltag, wenn man zwangsfrei ist”, sagt die 28-Jährige.
* Name geändert
Text: Lea Scheffler, Titelbild: Lea Scheffler, Bilder: Lea Scheffler, Alexandra Schrödter*