Herkunftsnennung in der Berichterstattung

Journalisten in Bedrängnis

von | 21. Dezember 2018

Bei Verbrechen stehen Journalisten oft vor einem Problem: Die Nennung der Herkunft der Opfer und Täter.

Diese Frage beschäftigt Redakteure in den Medien schon seit einiger Zeit und bereitet ihnen Kopfzerbrechen. Seit dem Aufkommen der Flüchtlingskrise, spätestens seitdem es die AfD für ihre Parolen nutzt, allerspätestens seit der Pressekodexänderung am 22. März 2017, ist bei den Journalisten ein Fingerspitzengefühl für diese Thematik gefragt. Wenn in der Region ein Verbrechen verübt wird, ist es die Pflicht der Presse, darüber zu berichten: Laut Kontraste interessiert den Leser nicht nur das „wo“ und „was“, sondern inzwischen viel mehr das „wer“ bei einer Straftat. Damit beginnt die wirklich harte Arbeit Medienschaffender, denn spätestens, wenn es um die Nationalität der Straftäter geht, müssen sie von Fall zu Fall abwägen, ob sie diese preisgeben oder nicht. Ein alltäglicher Konflikt, der auch zur persönlichen Geschmacksfrage werden kann. Im Interview mit einem Journalisten der Freien Presse präsentiert medienMITTWEIDA Lösungsansätze für diese Problematik.

Samstag, 10 Uhr, in der Redaktion der Freien Presse in Chemnitz. Der aktuelle Polizeibericht aus Chemnitz landet im Postfach des Ressorts Newsdesks. Eine der Meldungen des dreiseitigen Berichtes lautet: „Zwei Jugendliche greifen Busfahrer an“. Er hat die Meldung gelesen. Nun wandert die Hand des Redakteurs zum Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist die Pressestelle der Polizei. Der Journalist fragt nach der Herkunft des Täters und bekommt seine Antwort. Das ist Bestandteil der allgemeinen Berichterstattung über das Geschehen in der Region und gehört bei den Redakteuren in dem Chemnitzer Verlagshaus längst zur Routine. Das war nicht immer so.

Der Vorwurf “Lügenpresse” kam vermehrt nach der Silvesternacht 2015 in Köln in den sozialen Netzwerken auf und mit ihm auch ein verstärktes Misstrauen gegenüber den Medien. Die Berichterstattung zu dieser Nacht hatte zu zahlreichen Beschwerden bei dem Deutschen Presserat geführt, schreibt der tagesspiegel. Die Beiträge von regionalen und lokalen Tageszeitungen standen laut Statistik des Deutschen Presserates dabei besonders in der Kritik. “Warum die Medien so spät über Köln berichteten”, titelt die Süddeutsche Zeitung und erläutert mögliche Ursachen für die nachlässige Berichterstattung. Einer der Gründe, könnte die falsche Darstellung der Kölner Polizei in der Pressemitteilung nach der Silvesternacht sein. Unter der Überschrift „Ausgelassene Stimmung, Feiern weitgehend friedlich“ konnte kein Journalist, die tatsächlichen Geschehnisse vermuten. Die Frage, unter welchen Umständen die Herkunft eines Täters oder eines Verdächtigen in der Berichterstattung genannt wird, wurde danach verstärkt in allen Redaktionen deutschlandweit diskutiert, so die taz. Richtlinien und ethische Vorgaben der Journalisten waren Gegenstand der Debatten und wurden neu formuliert.

Eine Richtlinie, kein Gesetz

„In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte“, lautet die Ziffer 12.1 des Pressekodex des Deutschen Presserates. Diese Regelung ist seit dem 22.03.2017 gültig und dient als Leitfaden für die Redaktionen in Deutschland. Zuvor hieß es, es müsse ein “begründbarer Sachbezug” zur Straftat bestehen. Da es kein konkretes, gesetzlich festgelegtes Maß für das „begründete öffentliche Interesse“ gibt, sind die Journalisten angewiesen, nach eigenem Ermessen gemäß der Richtlinien zu handeln. Diese wurde nachträglich durch Praxisbeispiele ergänzt, welche die Arbeit in der Redaktion erleichtern sollen. Ein Punkt der Auflistung lautet: “Die Biografie eines Täters oder Verdächtigen ist für die Berichterstattung über die Straftat von Bedeutung. Das dazugehörige Beispiel ist: Täter ist Flüchtling und hat auf seiner Migration bereits vergleichbare Straftaten begangen.” Jeder Medienmacher muss für sich einen Weg finden, mit der Herkunftsnennung von Straftätern umzugehen.

Ronny Strobel ist der Teamleiter Online im Ressort Newsdesk bei der Freien Presse. Er erklärt, wie sich die Debatte um die Herkunftsnennung im Verlagshaus in Chemnitz entwickelt hat: „Nach Köln gab es eine interne Diskussion. Woraufhin wir auch ein bisschen von der damaligen Rechtsprechung beziehungsweise Haltung des Presserates abgekommen sind und uns ein eigenes Tableau an Regeln auferlegt haben, wie wir mit der Herkunftsnennung umgehen.“

Ein Regelwerk gegen die Unsicherheit

Was ist ihm bei der Entscheidung besonders wichtig? „Die Kernwährung des Journalismus ist Glaubwürdigkeit“, sagt Strobel. „Wir wollen mit solchen Berichten nicht den Eindruck erwecken, dass wir bestimmte Informationen unter dem Teppich halten. Insoweit kam es dann zur Diskussion in der Redaktion und zu dem Regelwerk.“

Mit dem Regelwerk ist ein einseitiger Fragenkatalog gemeint, der Straftaten und deren Schwere in zwei Prioritäten trennt: Bei Geschehnissen der Priorität Eins wird die Herkunft des Straftäters genannt, etwa wenn es sich um Mord oder Totschlag im öffentlichen Raum handelt. Es geht also um besonders schwere Straffälle, dazu zählt auch Terrorismus. Bei allen anderen Taten (Priorität Zwei) wird die Herkunft ebenfalls genannt, sobald drei Fragen mit „Ja” beantwortet werden können. „Richtet sich die Tat gegen Leib und Leben?“, „hatte die Tat einen sexuellen Hintergrund?“, oder: „Hat die Polizei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet?“ sind nur Auszüge aus diesem Teil des Fragenkatalogs. Für die Redaktion gelten weiterhin bestimmte Grundregeln. Das hieße, keine Berichterstattung von Hören-Sagen, keine Verwendung von ungeprüften Anschuldigungen. „Bei Bagatelldelikten, dazu gehört zum Beispiel Ladendiebstahl oder auch Schwarzfahren, ist die Herkunftsnennung in der Regel nicht berichtenswert“, ergänzt Strobel. Doch was sind die Reaktionen der Leser auf dieses Vorgehen?

Freie Presse-Redakteur Ronny Strobel  im medienMITTWEIDA-Interview: Wie geht er als Teamleiter des Newsdesk mit der Frage der Herkunfts-Nennung um? Foto: Christian Tung Anh Nopper

Wir können es keinem Lager recht machen

„Die Reaktionen sind überwiegend positiv und wir haben nach Einführung der Regeln zustimmende Reaktionen von vielen, vielen Lesern bekommen, die nicht verstanden haben warum, das bislang noch nicht so gehandhabt worden ist“, erklärt Strobel. Es gebe aber auch eine Fraktion, die komplett gegen die Nennung der Nationalität ist. Grund: Es fördere Klischees und bringe gewisse Nationalitäten mit Straftaten automatisch in Verbindung. Der 44-jährige Redakteur betont: „Wir als Redaktion können es keinem der verschiedenen Lager recht machen. Wir fragen uns halt: Werden wir unserer Verantwortung gerecht, die Verbreitung von Klischees nicht zu bedienen, aber andererseits genau und präzise bei der Berichterstattung zu sein?“

Wenn es zum Beispiel an einem bestimmten Platz in Chemnitz häufig zu Straftaten einer bestimmten Tätergruppe komme, dürfe die Presse das nicht ignorieren und solle den Leser vollständig darüber zu informieren. Dies schließt auch die Nennung der Herkunft ein. Aber selbst Regelwerke und Richtlinien schützen die Presse nicht vor Anfeindungen in den sozialen Netzwerken.

Facebooknutzer hinterlassen bei einer Nicht-Erwähnung der Herkunft Kommentare wie „Lügenpresse“ oder gar „Systempresse“, was eine Anspielung auf eine vermeintliche staatliche Kontrolle der Medien sein soll und die Unabhängigkeit der Presse in Frage stellt. Andere Nutzer wiederum schicken Nachrichten, in denen sie fragen, warum die Nationalitäten überhaupt eine Rolle spielen, da wir doch alle Menschen seien.

Die Mitarbeiter der Onlineredaktion müssen sich tagtäglich mit den Kommentaren auf der Homepage und in den sozialen Medien auseinandersetzen. „Die Nennung der Herkunft sorgt für eine gewisse Transparenz. Denn wenn ich nicht nur selektiv lese, sondern die Berichterstattung über das Thema Kriminalität komplett verfolge, merken die Leser natürlich auch, dass viele aus der unmittelbaren Umgebung aus Sachsen, aus Deutschland straffällig werden“, sagt Strobel zu dem Thema.

Andere Redaktionen, andere Regel

Die Sächsische Zeitung hat sich bewusst gegen die Richtlinie des Presserats entschieden, schreibt Meedia. Das Medienhaus will nun bei jeder Berichterstattung die Herkunft eines Straftäters nennen. Diese Entscheidung fällte die Zeitung nach mehreren Anfeindungen. „Wir stehen zu 100 Prozent und mit ganzem Herzen hinter dem Ziel der Pressekodex-Richtlinie. Allerdings fragt sich die Redaktion, ob der Weg in unserer gegenwärtigen Situation zum Ziel führt – oder womöglich das Gegenteil bewirkt“, sagte der Chefredakteur Uwe Vetterick gegenüber dem Berliner Tagesspiegel. Es gehe um Vertrauen und das möchte die Zeitung bei den Lesern durch dieses Vorgehen wiedergewinnen. Die Sächsische Zeitung habe dasselbe Ziel wie der Presserat, nämlich Minderheiten vor Stigmatisierung zu schützen. Bei der Deutschen Presseagentur (dpa) gibt es auch seit 2017 neue interne Richtlinie, die Herkunft von Tatverdächtigen soll dabei künftig öfter genannt werden, allerdings meistens beiläufig. „Also wir werden zum Beispiel auch nicht in Überschriften oder Leitsätzen Nationalitäten von Tätern nennen, um das besonders zu betonen”, sagt der dpa-Chefredakteur Sven Gösmann in einem Interview zum Deutschlandfunk.

Die Nennung der Herkunft in der journalistischen Berichterstattung wird auch weiterhin ein sensibles und komplexes Thema bleiben. Wie bedeutsam die Nationalität ist, entscheidet damit jede Redaktion unterschiedlich unter anderem auch je nach Strafmaß. Neben der Richtlinie des Pressekodex haben viele Redaktionen in Deutschland unterschiedliche Ideen entwickelt, wie sie mit dieser Problematik umgehen. Zusätzliche Fragenkataloge, die generelle Herkunftsnennung oder die beiläufige Erwähnung – es wird immer Kritiker geben, die keine Handlungsweise richtig finden. Jedoch ist es für den Journalisten selbst wichtig, dass er nachdenkt und sich für Wahrheit sowie Glaubwürdigkeit einsetzt, aber ebenso die Diskriminierung von Minderheiten verhindert. Denn „die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse“, lautet die erste Ziffer im Pressekodex.

Interview mit Ronny Strobel von der Freien Presse

Was für Probleme können bei der Nennung der Herkunft auftreten?

Text und Interview: Elisa Raßmus; Schnitt: Christian Tung Anh Nopper; Fotos: Christian Tung Anh Nopper, Lydia Pappert, Elisa Raßmus
<h3>Elisa Raßmus</h3>

Elisa Raßmus

ist 24 Jahre alt. Sie studiert im 5. Semester Medienmanagement mit der Vertiefung Journalismus. Seit 2016 arbeitet sie nebenbei in der Onlineredaktion bei der Freien Presse in Chemnitz. Außerdem hat sie sich für ein Volontariat bei der Mitteldeutschen Journalistenschule entschieden. Dieses läuft seit dem Sommersemester 2018 parallel zum regulären Studium. Seit April 2018 betreut sie das Ressort Story als Ressortleiterin bei medienMITTWEIDA.