Triggerwarnung: In diesem Beitrag werden Vergewaltigung, Zwangsprostitution, Missbrauch, Verletzungen im Intimbereich und Opferleugnung thematisiert. Wenn du Probleme mit dem Thema hast, lies ihn nicht oder nicht allein.
„Wenn ich versucht habe, meinen Schmerz auszudrücken, wurde ich sehr schlimm bestraft.“ Hajar hat bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr rituelle Gewalt erlebt. Beschämung, Ausgrenzung, Beschimpfung und Prügel – Das sind die Worte, die Hajar mit ihren Eltern verbindet.
Gefangen in einer Sekte
Hajar erzählt im Interview mit medienMITTWEIDA, dass ihr Alltag aus schwerer sexueller Gewalt bestand. „Man hat mich geschminkt und vor der Kamera vergewaltigt.” Sie wurde zur Darstellung von sexualisiertem Kindesmissbrauch benutzt. Um rituelle Gewalt handelt es sich, wenn physische, sexuelle oder psychische Gewalt als Teil eines Rituals begangen wird. Die Täter:innen sind meist mehrere Personen, die einer Art Sekte angehören. Dabei geschehen diese Gewalttaten nicht aus dem Affekt, sondern werden durch Ideologien wie Satanismus oder Faschismus bewusst den Betroffenen angetan. Häufig ist sie mit kommerzieller sexueller Ausbeutung, wie zum Beispiel Zwangsprostitution oder der Herstellung von Missbrauchsdarstellungen verbunden.
In den meisten Kulten sind mehrere Generationen einer Familie eingebunden, sodass es nicht selten vorkommt, dass diese Gewalttaten in der eigenen Familie stattfinden. Das hat zur Folge, dass die Kinder oftmals schon früh an die Täter:innen, Sekte und Ideologien gebunden werden. „Wir wurden von unserer eigenen Familie, primär vom Vater, der selbst pädokriminell war an den Kult verkauft“, erzählt Hajar uns. Damals war sie noch eine Neugeborene. Weiterhin berichtet sie: „Die reine Liebe, die man als Kind für andere Lebewesen empfindet, sowie Bindungsgefühle, werden frühestmöglich zerstört. Das schaffe man beispielsweise, indem man das Kind unter zerstörerischen Gewalteinwirkungen, die bis in die Nahtoderfahrungen gehen, zwingt, etwas total Abscheuliches zu tun.” Die Kinder werden dann von den Sektenführer:innen selbst zu Täter:innen gemacht und müssen meist strafbare Handlungen, wie Tierquälerei, Grabschändung oder schwerer Körperverletzung bis hin zum Mord von Mensch und Tier vollziehen. Hajar spricht hierbei von „finsteren und bösartigen Wertvorstellungen“, die ihr aufgezwungen wurden. Sie selbst musste anderen Lebewesen Schlimmes antun. Das so erzwungene Verhalten bringt die Kinder zur Gehorsamkeit, da sie Angst haben, verraten zu werden.
Die rituellen Symboliken und Ideologien zeigten sich laut Hajar „in der Sprache der Täter:innen, ihrem Kleidungsstil während der Gewalttaten und in den Ritualen selbst, also dort, wo Gruppenvergewaltigungen an Kindern verübt worden waren und es auch zu Folter und Tötungsdelikten kam. Auch an den Räumlichkeiten und den Orten, die dafür gewählt wurden.“ Mit Statuen, Teppichen, Fackeln, symbolisch-okkulten Objekten und Schriftzügen wurde dann noch alles dekorativ geschmückt. „Die Ästhetik gab meistens den Hinweis auf die Ideologien“, so Hajar.
Das eigene Kind trainieren
Um Gehorsamkeit bei den Kindern zu erzwingen, wird in den Gruppen das sogenannte Mind Control angewendet. Hierbei handelt es sich um eine Konditionierung und Programmierung des Kindes. Dazu gehören das Abtrainieren eigener Bedürfnisse wie Schlaf, Hunger oder Bewegung, sowie die Überwindung von Ekel und Würgen bis hin zum Training des Körpers auf alle Varianten von Geschlechtsverkehr. Um diese Gehorsamkeit zu erlangen, zählt Hajar die Worte „Folter, Manipulation und Gehirnwäsche unter dem Einsatz von technischen Geräten“ auf. Die Täter:innen wollen die totale Kontrolle über das Verhalten des Betroffenen erlangen und es darf keine gesunde Bindung zu anderen außerhalb der Sekte entstehen. Ansonsten würde die Gefahr bestehen, dass die betroffene Person etwas erzählt. Um diese Programmierung vollziehen zu können, nutzen die Täter:innen die Dissoziationsfähigkeit von Kindern zum Vorteil. Durch das Training und die Manipulation werden so schon im frühkindlichen Alter gezielt Anteile der Persönlichkeit des Kindes abgespalten. Diese Anteile dienen dann dem Zweck der Gruppe. So können die Täter:innen durch ein bestimmtes Signal wie einen Ton, eine Geste oder ein Wort einen bestimmten Persönlichkeitsanteil triggern in den Vordergrund des Bewusstseins rufen. Das passiert meistens, wenn das Kind eine Aufgabe für die Gruppe erledigen muss. Diese umfassen überwiegend Kinderprostitution, Kinderpornographie und die Teilnahme an Gewaltdelikten anderer.
Die sexuelle Gewalt fängt meist in frühester Kindheit an und dauert oftmals bis ins Erwachsenenalter an. Betroffene beschreiben Hierarchien innerhalb der Gruppe, wobei in der Regel Männer die Führungsebene bilden. Von großer Bedeutung sind strikt einzuhaltende Schweigegebote und das einwandfreie und unauffällige Auftreten nach außen.
False-Memory Syndrom: Die Pseudowissenschaft
Die False-Memory Foundation, die die Pseudowissenschaft „False-Memory Syndrom“ erfunden hat, wurde von dem Ehepaar Pamela Freyd und Peter Freyd 1992 gegründet. Warum das wichtig ist? Peter Freyd ist von seiner Tochter, der Psychologie-Professorin Jennifer Freyd, des sexuellen Missbrauchs beschuldigt worden. Das False-Memory-Syndrom soll sich auf die Bildung von Erinnerungen an Ereignisse, die tatsächlich nie stattgefunden haben, beziehen. Hierbei wird von Leugner:innen der rituellen Gewalt verbreitet, dass Traumatherapeut:innen Betroffenen traumatische Dinge, wie zum Beispiel Gewaltdelikte, durch suggestive Fragestellungen nur einreden würden. Im Fall Freyd plädierte der Vater auf Unschuld und gab als Grund des Vorwurfs das „lustlose Sexualleben“ der Tochter sowie den Neid gegenüber der Mutter an. Dass die Tochter ihn überhaupt anschuldigte, lag laut ihm an der feministischen Therapeutin, die ihr all dies nur einredete.
Eine Erklärung, wie ein:e Therapeut:in mehrfache Rippenbrüche, Fehlstellungen in Hand-/Fußgelenken oder Zysten im Eileiter im sehr jungen Kindesalter suggerieren kann, haben die Anhänger nicht.
Die Lehre vom False Memory Syndrom nicht-wissenschaftlich belegte Pseudowissenschaft wurde dann immer bekannter und es schlossen sich viele Menschen der Foundation an – Leute wie Ralph Underwager, der Pädophilie als „Gottes Willen“ bezeichnet. Bis heute wird die Theorie des „False-Memory Syndrom“ als Instrument zur Diskreditierung von Überlebenden sexueller Traumata in unter anderem Gerichtsverfahren genutzt.
Vor Gericht keine Chance
Rituelle Gewalt ist in Deutschland offiziell kein Straftatbestand. Kommt es zu einer Verurteilung, dann bezieht sich diese auf „sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen (§ 179 StGB)“ oder „Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180 StGB).“ Einer der Gründe für die wenigen Verurteilungen ist die Verjährung bei Sexualstraftaten. Sexueller Missbrauch, sowie die Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger verjährt grundsätzlich nach fünf Jahren. Sexueller Missbrauch wehrloser Personen verjährt nach zehn Jahren. Sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung verjährt nach 20 Jahren. Wenn man die Gewalttaten bereits als Kind erfuhr und darauf verschiedene Persönlichkeitsanteile entwickelt hat, ist die Straftat meist als Erwachsener schon verjährt. Doch erst im Erwachsenenalter würden die meisten Überlebenden überhaupt zur Polizei gehen, da durch jahrelanges Verdrängen die meisten Erinnerungen dann wieder präsenter werden.
Im Aufkommen verdrängter Erinnerungen liegt ein weiterer Grund: die Glaubwürdigkeit. Vor Gericht kommt es dann meist zu einem dieser zwei Szenarien. Szenario eins: Die Erinnerungen der Überlebenden sind auf viele Persönlichkeitsanteile abgespalten, wodurch eine detaillierte Darstellung des Tatherganges meist sehr schwer ist. Dabei kann es sein, dass gerade ein Persönlichkeitsanteil befragt wird, der eine andere Erinnerung an die Farbe des Täter:innen-T-Shirts hat, als eine der anderen Anteile.
Szenario zwei: Die Überlebenden haben häufig keine Zeugen oder Beweise. Bei körperlichen Verletzungen kann nach vielen Jahren nicht nachgewiesen werden, ob diese wirklich von den Aussagen der Überlebenden kommen. Vor allem bei sogenannter „weißer Folter”, dazu gehört psychische Folter, wie Schlafentzug, Isolation oder Demütigung, werden keine Spuren am Körper gefunden.
Beide Szenarien treffen, laut Hajar, auch auf sie zu. Sie selbst sehe ihre Chancen sehr schlecht, da ihre Erinnerungen sehr fragmentiert seien und keine Beweise vorlägen. „Das hätte nämlich bedeuten müssen, dass wir bereits als Kleinkind Spermaspuren und Videoaufnahmen hätten bewahren müssen. Das ist selbstverständlich absolut unmöglich.“
Personen, die die Tat bezeugen könnten, sind meist Mittäter:innen oder selbst Überlebende, die entweder Angst vor den Täter:innen haben oder denen ebenfalls nicht geglaubt wird. Laut Hajar käme es aus diesen Gründen nur bei acht bis zehn Prozent der angezeigten Straftäter:innen auch tatsächlich zu einer (gerichtlichen) Verurteilung der Täter:innen. „Und das, obwohl Expert:innen den Anteil von Falschbeschuldigungen bei gerade einmal drei Prozent einschätzen“, so Hajar.
Lebenslange Folgen
Die rituelle Gewalt endete bei Hajar mit ca. 14 Jahren, als ihre Eltern sich scheiden ließen. Sie kam damals bei einer Nacht- und Nebelaktion in ein Frauenhaus. Hajar erzählt uns, dass danach trotzdem nicht alles vorbei war: „Ich habe allerdings weiterhin Gewalt in dem eigenen Elternhaus erlebt, wie zuvor auch durch meine Mutter, die jahrelang die Taten vertuschte und mir psychische und körperliche Gewalt angetan hat.“ „Gelegentlich auch noch von meinem Vater, der mich selbst seit der Kindheit sexuell missbraucht hat.“
Die Betroffenen haben im Erwachsenenalter mit vielfältigen und erheblichen Folgen zu kämpfen. Sie sind häufig körperlich stark beeinträchtigt und leiden unter Traumafolgestörungen, wie etwa einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Hajar selbst ist auch eine DIS-Betroffene. Sie leidet bis heute unter Flashbacks, Amnesien, Depersonalisation und tagtäglichen Switches, ausgelöst durch die DIS als Folge frühkindlicher Extremtraumata.
Flashback, Amnesie, Depersonalisation, Switches
Zudem werden Betroffene, die sich aus diesen Gewaltstrukturen lösen wollen, oftmals unter Druck gesetzt, erpresst und verfolgt. Dies ist meist durch die DIS noch leichter für die Täter:innen umzusetzen, da manche Persönlichkeitsanteile täterloyal sind. Das bedeutet, dass der Anteil den Schädiger verteidigt oder gar beschützt. Wenn dieser Anteil gerade präsent ist, kann es sein, dass er das Bedürfnis hat, die Täter:innen zu besuchen oder ihnen die neue Handynummer zukommen zu lassen. Hajar kennt diese Gedanken: „Bei uns war es so, dass es uns extrem schwierig gefallen ist, den Kontakt zum „Vater“ vollständig zu beenden. Wir dachten immer, dass wir ihm etwas schulden würden, da er ja unser „Vater“ sei.”
Aber auch körperliche Folgen verfolgen die Überlebenden ein Leben lang. Dazu gehören Gehbehinderungen, Gelenkverschleiß oder chronische Muskelverspannung aufgrund der frühkindlichen Gewalterfahrungen während der Wachstumsphasen.
Hajar wünscht sich für die Zukunft, dass man irgendwann die Kinder vor diesen Grausamkeiten schützen und den Überlebenden Halt bieten kann. Es macht sie unfassbar betroffen, dass man Folteropfer so ausgrenzt und in den Lebenslagen im Stich lässt.
Text: Karolin Nemitz;Titelbild: Nicolas Lieback