Kati*, die sich selbst als hochsensiblen Menschen einschätzt, beschreibt dieses Szenario. „Die Tür hat sich wirklich gerade erst geöffnet und mit einem Mal stürmen so viele Sinneseindrücke auf mich ein, dass ich bei der Frage der Gastgeberin, was ich denn trinken möchte, beinah schon wieder gegangen wäre.“ Sie nimmt in diesem Moment nicht nur die Musik viel intensiver wahr, sondern auch die Gespräche der umstehenden Menschen. Kati kann spüren, wie die Stimmung zwischen bekannten und unbekannten Gesichtern ist. Sie bemerkt, dass zwischen einem Liebespaar Ärger in der Luft liegt. Gleichzeitig nimmt sie aber auch die aggressive Stimmung von einer Jungengruppe wahr, die sich im Raum verbreitet und für Kati beinah körperlich spürbar wird.
Ungefilterter Blick auf die Umgebung
Laut Ärzte Zeitung beschrieb die US-Psychotherapeutin Elaine Aron erstmals 1997 den Begriff „Highly Sensitive Person“ (HSP). Ihre Studie legte Elaine Aron zusammen mit ihrem Ehemann Arthur Aron noch in demselben Jahr zu diesem Phänomen vor. Anhand mehrerer Interviews mit unterschiedlichen Menschen entwickelten sie einen Fragebogen mit 60 Fragen. Diesen testeten sie an 905 Personen. Mithilfe von Faktorenanalysen und Item-Evaluierungsmethoden konnte das Forscherpaar abschließend 27 Fragen herauskristallisieren, die zu der „HSP-Skala“ zusammengefasst wurden. Damit erweiterten sie den Blick der Gesellschaft für Menschen, die empfindsamer sind als andere und halfen, Betroffenen mehr über sich sowie ihren Wesenszug zu erfahren.
Professor Peter Falkai von der Psychiatrischen Klinik der Uni München schätzt die Häufigkeit der hochsensiblen Menschen in der Gesamtbevölkerung auf ein bis drei Prozent. Im Gespräch mit der Ärzte Zeitung zweifelt er die Angaben von verschiedenen Autoren an, dass bis zu 25 Prozent der Bevölkerung betroffen seien. Das Magazin Psychologie heute behandelt in der Ausgabe „feinfühlig“ behandelte den Forschungsstand von 2015 zu HSP. Dabei ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, dass 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung hochsensibel sein könnten. Frauen und Männer sind gleichermaßen betroffen und auch in der Tierwelt gibt es diese Ausprägung.
Bei Hochsensibilität handelt sich um ein Persönlichkeitsmerkmal. Es ist keine anerkannte Diagnose und es ist auch keine Krankheit. Laut Spiegel verarbeiten Betroffene Reize im Gehirn anders als normal sensible Menschen. Weitaus mehr Informationen gelangen ungefiltert in das Bewusstsein und Denkzentrum der Hochsensiblen. Grund dafür ist eine neurologische Besonderheit. Diese unterschiedlichen Reize werden dann länger und gründlicher verarbeitet als bei Menschen, die nicht hochsensibel sind. Das Nervensystem besitzt eine erhöhte Empfindsamkeit für äußere und innere Stimuli. Mit äußeren Reizen sind zum Beispiel Lärm oder Gerüche aus der Umgebung gemeint, die inneren sind die eigenen Empfindungen und Emotionen von Anderen.
„Du Mimose“
Natürlich kann dieses Persönlichkeitsmerkmal auch Probleme hervorrufen und bei anderen Menschen auf Unverständnis stoßen. „Ich wurde früher sehr oft als Mimose oder Sensibelchen bezeichnet. Ich habe mir Gesagtes einfach schneller zu Herzen genommen, ich habe lange darüber nachgegrübelt und war bei Scherzen von Freunden oder Familie schnell beleidigt“, erzählt Kati.
Aber nicht nur emotional stieß sie schneller an ihre Grenzen als andere Menschen. „Ich war nach einem normalen Arbeitstag oder früher nach der Schule einfach erschöpft. Ich konnte nichts mehr mit Freunden unternehmen. Ich wollte mich einfach zurückziehen und meine Ruhe.“ Dadurch wirkte Kati auf andere unsozial und abweisend. Sie bekam das Gefühl, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmte. Hochsensible Menschen wissen oft nicht, dass sie diese Persönlichkeitsausprägung besitzen. Sie merken lediglich, wie ihr Umfeld auf ihre Eindrücke reagiert und das ist leider meist negativ.
Natürlich nehmen sich Personen wie Kati solche Reaktionen noch mehr zu Herzen und beginnen zu zweifeln, an sich und an ihrem Platz in der Gesellschaft. Hochsensible verfluchen sich für ihre niedrige Belastbarkeit und dafür, dass sie in Situationen wie in einem Kaufhaus, einer Bahnstation oder auf einer Party einfach überfordert sind. Viele hochsensible Menschen kämpfen dadurch mit einem niedrigen Selbstwertgefühl.
In einem Gespräch mit der Zeitschrift Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V. erzählt die freiberufliche Diplompsychologin Sylvia Harke, dass hochsensible Menschen auch anfälliger für Stresserkrankungen sind. Das liege daran, dass sie permanent mehr Stress in Form von Reizen ausgesetzt sind und das belastbare Maß schneller überschritten wird als bei anderen Menschen. Weitere Symptome können Prüfungsängste, Überreaktionen, leichte Erregbarkeit oder erhöhte Schmerzempfindlichkeit sein. Bei vielen hochsensiblen Menschen wird auch häufiger Burnout diagnostiziert. Dabei spielt Schmerz nicht nur eine körperliche Rolle, sondern auch eine emotionale.
Von Empathie zu Weltschmerz
„Ich kann ehrlich gesagt keine Nachrichten mehr anschauen oder kein Radio hören. Nur Tod, Krieg und Leiden auf der Welt und ich nehme mir jedes Schicksal an. Sobald ich so etwas höre, verfalle ich manchmal tagelang in tiefe Traurigkeit und grüble darüber nach.“ Was Kati beschreibt ist das Gefühl des Weltschmerzes. Hochsensible Menschen empfinden Empathie für ihre Mitmenschen und ihre Umwelt.
Das beschreibt auch Georg Parlow in seinem Buch „Zartbesaitet“. Darin wird das Phänomen näher beleuchtet, dass es Hochsensiblen schwerer fällt, sich abzugrenzen. Sie sind sehr harmoniebedürftig und wollen ihren Mitmenschen helfen. Schmerz oder Trauer, die andere fühlen, trifft auch sie. „Ich habe manchmal das Gefühl, dass meine Emotionen sehr viel intensiver und bunter sind. Ich kann mich auch sehr in Stimmungen reinsteigern“, sagt Kati. Wie ist sie selbst zu der Erkenntnis gekommen, hochsensibel zu sein?
Forschung, Tests und Ergebnisse
„Ehrlich gesagt, war das auch durch das Buch „Zartbesaitet“, welches ich von einer Freundin bekommen habe. Ich habe auf jeder Seite nur genickt und mich in so vielen Zeilen wiedergefunden. Dann habe ich den Test auf der gleichnamigen Internetseite gemacht. Und das Ergebnis waren 196 Punkte (Anm. d. Red.: ab 163 Punkten soll man sehr wahrscheinlich hochsensibel sein)“, erzählt Kati. Sie wisse allerdings, dass dieser Bereich der Psychologie noch wenig erforscht ist und es auch viele unseriöse Quellen gibt. Mittlerweile gibt es jede Menge Blogs zu dem Thema, aber wenig Experten, die sich zur Hochsensibilität äußern. Kati fühlt sich aber durch das Buch verstanden. Es stimmen einfach zu viele Merkmale überein, um sich nicht als hochsensibel einzuordnen.
Elaine Aron gab 1997 den Anstoß für weitere Forschungen auf diesem Gebiet. 2017 erschien die überarbeitete und ausdifferenzierte HSP-Skala von Konrad und Herzberg, welche drei Faktoren der Ausprägung identifizieren konnte: „Leichte Erregbarkeit (Ease of Excitation)”, „Ästhetische Empfindsamkeit (Aesthetic Sensitivity)” und „Niedrige sensorische Wahrnehmungsschwelle (Low Sensory Threshold)”.
Bianca Acevedo (2014, 2018) und Jadzia Jagiellowicz (2011) konnten ebenfalls mit verschiedenen Verfahren zeigen, dass Hochsensibilität mit der Aktivierung bestimmter Gehirnareale einhergeht. Diese Areale stehen in Zusammenhang mit Aufmerksamkeit, Empathie, Handlungsplanung, der Integration sensorischer Information und der Verarbeitung von Information aus dem zwischenmenschlichen Kontakt (self-other processing). Die neueste Entwicklung beschreibt die Korrelation der Variation von Neurotransmitter-Genen mit Hochsensibilität.
Einfach nur überempfindlich?
Die Ergebnisse von Elaine Aron und weiteren Forschungen deuten stark auf die Existenz von hochsensiblen Menschen hin. Trotzdem zweifeln einige Ärzte und Wissenschaftler HSP immer noch an beziehungsweise vermuten, dass die Selbstdiagnose zu schnell erfolgt. So auch der Münchener Arzt Andreas Meißner im Gespräch mit der Welt. Die Forschungsergebnisse seien nicht eindeutig und es existiere bislang keine klare Abgrenzung dieser Personengruppe. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sagt in dem Fachblatt Neurotransmitter: „Zu vage und beliebig sind die zahlreich angeführten Eigenschaften, in denen sich mühelos die meisten Leser wiederfinden können.“ Beispiele dafür sind die Fragen in dem Selbsttest: „Bereiten Ihnen laute Geräusche Unbehagen?“ oder „Haben Sie ein reiches, vielschichtiges Innenleben?“
Besonders in Deutschland ist das Thema noch weitgehend unerforscht. Sandra Konrad stellt im Gespräch mit der Berliner Zeitung fest, dass „Hochsensibilität vor allem eine Temperamentseigenschaft ist.“ Sie beschäftigt sich an der Universität der Bundeswehr in Hamburg mit der Thematik. „Sie ist nur so schwer wissenschaftlich nachzuweisen, weil hier sehr viele Faktoren mit hineinspielen.“
Fluch oder Segen?
Trotz der niedrigeren Belastbarkeit bergen die Fähigkeiten von hochsensiblen Menschen ein großes Potenzial. Sinneseindrücke, die andere Menschen automatisch ausblenden, werden von HSP ungefiltert wahrgenommen. Wie das Portal healtyhabits beschreibt, können die Stärken bei HSP sehr vielfach und verschieden sein. Sie können so Muster und Harmonien erkennen, wo manch anderer gar nichts sieht. Sie haben ein besonderes Gespür für Ästhetik. Farben, Schriften und Stile können sie intuitiv passend auswählen. Manch einer von ihnen kann besonders gut hören. Frequenzen und Tonspuren können sie unterscheiden und erkennen. Hochsensible Menschen zeichnen sich ebenfalls durch Empathie, Gewissenhaftigkeit und als gute Zuhörer aus. Sie streben nach Harmonie und Perfektion. Gleichzeitig sind sie Freidenker mit lebhafter Vorstellungskraft, die zu kreativen Innovationen fähig sind.
Der Grad der Empfindsamkeit und der betroffenen Sinnesorgane ist von Person zu Person unterschiedlich. Wenn Menschen lernen, ihr Wesen zu akzeptieren, können sie auch besser mit ihrer Umwelt agieren.
Kati fühlt sich nun auch wohler in ihrer Haut. Sie weiß, wo ihre Grenzen liegen. Eine Party wird immer eine besondere Herausforderung für sie sein. Die vielen Geräusche schmerzen in ihren Ohren. Die Luft ist kaum zu atmen. Die Anwesenheit der anderen drückt sie beinah zu Boden. Die Gastgeberin schaut Kati immer noch erwartungsvoll an: „Na was soll’s denn sein?”. „Weißt du was, für den Anfang bitte erstmal nur eine Cola”, gibt Kati zurück und schaut sich nach der ruhigsten Ecke des Raumes um.
*Namen von der Redaktion geändert