Nordisches Modell

„Das Nordische Modell steigert die Gefahr für Sexarbeiter:innen”

von | 10. Juni 2022

Aus Schutzmaßnahmen wird Schutzlosigkeit. Verminderte Sicherheit ist nur ein Kritikpunkt am Nordischen Modell.

Das Abolitionistische Modell, auch Nordische Modell genannt, wurde erstmals 1999 in Schweden eingeführt. Dadurch machen sich Sexkäufer und Betreiber strafbar, nicht aber Sexarbeiter:innen selbst. Anders als die Befürworter:innen des Modells sehen kritische Stimmen vor allem eine Gefahr in den Auswirkungen der Kriminalisierung von Sexarbeit. Emiely Grubert engagiert sich seit drei Jahren in der Beratungsstelle für Sexarbeit Bella Vanilla in Chemnitz, auch ihre Bachelor-Thesis widmet sie dem Thema Prostituiertenschutzgesetz. Im Interview mit medienMITTWEIDA spricht sie sich gegen die Einführung des Nordischen Modells in Deutschland aus. 

Emiely Grubert engagiert sich in der Beratungsstelle für Sexarbeiter:innen Bella Vanilla. Foto: Patrick Ernst

Welche gesellschaftliche Rolle nimmt die Sexarbeit ein? Ordnest Du Sexarbeit als eine “normale” Dienstleistung ein?

Emiely: Die Sexarbeit ist geprägt von vielen verschiedenen Lebenssituationen, einige davon können definitiv nicht als “normale” Dienstleistung bezeichnet werden. In sehr prekären Umständen zeigt die Branche viele Probleme in unserer europäischen Gesellschaft auf. Es stellen sich Fragen um die Rolle der Frau in der Gesellschaft, um deren Selbstwertgefühl und die Bereitschaft der Menschen problematische Umstände zu Ihrem Vorteil zu nutzen. Aber ich denke, Sexarbeit kann eine, zwar ungewöhnliche, aber normale Dienstleistung sein. Wenn es aus freiem Willen passiert, finde ich es wirklich gut, dass Menschen Sexarbeit anbieten dürfen, oder dieses Angebot in Anspruch nehmen dürfen. Da in der Gesellschaft Sexualität allgemein so ein großes Tabuthema ist, stellt sich oftmals die Kommunikation sexueller Bedürfnisse als große Hürde dar. Manche Kund:innen können durch dieses Angebot ohne Scham ihre Fetische und Vorlieben ausleben, was wiederum eine heilende Wirkung haben kann. 

Wie verhält sich der Anteil der Menschen, die dieser Tätigkeit freiwillig nachgehen, zu denen, die situationsbedingt dazu genötigt werden?

Emiely: Es ist sehr schwierig eine Tendenz festzumachen, da die Auslegung des Begriffs der Freiwilligkeit sehr vielfältig ausfällt. Um diese Frage zu beantworten, müssten wir zuerst den Begriff der Freiwilligkeit definieren können. Bedeutet Freiwilligkeit, dass diese Menschen sagen ‘Ich liebe diesen Job und ich möchte gar nichts anderes machen’? Oder ist Freiwilligkeit auch ‘Ich denke, ich kann nichts anderes und damit verdiene ich am schnellsten Geld, um meine Familie zu ernähren’?

Auch eine Person, die ihren Suchtmittelkonsum durch das Anbieten ihres Körpers finanziert, trifft eine Entscheidung. Also ist es die Frage, wie definiert man diese Grenze? Außerdem reden wir von einer Szene, über die keine oder kaum feste Zahlen bekannt sind. Allerdings glaube ich, es gibt einen großen Anteil an prekären Situationen.

Wie wirken sich Abhängigkeitsverhältnisse mit Zuhältern auf das Leben von Sexarbeiter:innen und deren Selbstbestimmung aus?

Emiely: Das kommt natürlich auf die jeweilige Situation an. Es gibt Sexarbeiter:innen, die für Zuhälter arbeiten, bei denen sie wenig Selbstbestimmung haben. Ihnen wird auferlegt, wie viele Kund:innen sie am Tag bedienen müssen, einen Teil ihres verdienten Geldes müssen sie abgeben und haben darüber keine Handhabe. Im schlimmsten Fall werden ihnen ihre Papiere weggenommen. Aber es gibt auch Zuhälter, die Schutz bieten und die Sexarbeiter:innen bei gewissen Tätigkeiten unterstützen. Die Zugehörigkeit zu einem Zuhälter ist also nicht nur negativ zu beurteilen. Natürlich arbeiten auch einige Sexarbeiter:innen komplett selbstbestimmt.

Du hattest angesprochen, dass viele Menschen sich prostituieren, um zum Beispiel ihre Drogensucht zu finanzieren. Welche Bedeutung haben denn die Drogen in der Branche für die verschiedenen Akteure auf diesem Markt? 

Emiely: Unter den Sexarbeiter:innen gibt es häufig Suchtmittelkonsum. Vor allem, wenn Sie sich in Situationen befinden, die für sie nicht angenehm sind. Wenn sie zum Beispiel von ihrer Familie getrennt sind oder die regelmäßigen Überschreitungen der Intimsphäre schlichtweg nicht aushalten. Wenn man unter schlechten Bedingungen arbeiten muss, helfen Suchtmittel, sich besser zu fühlenEs gibt Fälle, in denen Zuhälter das Suchtverhalten der Sexworker:innen noch fördern. Wie häufig das vorkommt, ist schwierig zu beantworten, aber unüblich ist es in der Szene nicht.

Mit welchen Mitteln unterstützt ihr Sexworker*innen?

Emiely: Bella Vanilla entstand in Anlehnung an das Prostituiertenschutzgesetz. Gemäß diesem Gesetz müssen Kommune beziehungsweise die Stadt Chemnitz auch psychosoziale Beratungsmöglichkeiten für Sexarbeiter:innen anbieten. Psychosoziale Beratung ist ein weites Spektrum. Wir beraten vor allem zu Themen rund um Gesundheit, Wohnsituation und Behörden. Generell ist die Zielgruppe immer relativ schwer zu erreichen. Da in dieser Branche viel Angst und Misstrauen herrscht, ist es schwer den Kontakt herzustellen. Sobald man dies aber geschafft hat, sind die Sexarbeiter:innen in der Regel dankbar für unser Angebot. In Chemnitz handelt es sich häufig um Wohnungssexarbeit – daher gehen wir vor allem zu den uns bekannten Adressen. Dort stellen wir uns vor, fragen nach dem Wohlbefinden und haben auch immer kleine Präsente, wie Kosmetika oder Kaffee, aber auch Arbeitsmaterialien in Form von Kondomen und Gleitgel dabei. Ein weiterer Schwerpunkt bei uns ist die gesellschaftliche Aufklärung. Als Expert:innen versuchen wir, neben den Gesundheitsämtern und dem sächsischen Sozialministerium, die vorherrschende Unwissenheit und Vorurteile aufzuklären und einfach ansprechbar zu sein. 

Wie stehst du zum Nordischen Modell?

Emiely: Ich bin keine Befürworterin vom Nordischen Modell, weil es nicht der richtige Weg ist, Sexarbeit komplett zu kriminalisieren. Ich glaube, dass sich die Branche dadurch lediglich noch stärker in die Illegalität verschiebt und die Gefahr für die Sexworker:innen steigt. Ziel des Prostituiertenschutzgesetzes war es, die Sexworker:innen zu schützen und mehr Einblick in die Branche zu haben. So wurde unter anderem eine Meldepflicht für Sexarbeiter:innen eingeführt. Allgemein wurden die Maßnahmen eher hochschwellig umgesetzt. Dadurch wird deutlich, dass diese Strategie nicht gut funktioniert. Würden wir das Nordische Modell einführen, wären wir vielleicht nicht mehr das so genannte Bordell Europas, aber Prostitution würde es immer noch geben. Auch in den Ländern, in denen das Modell bereits Anwendung findet, kann die Wirkungskraft schwer eingeschätzt werden. Der Grund ist, dass es keine Zahlen gibt, die man überprüfen kann. Außerdem finde ich es wichtig, dass Menschen selbst entscheiden dürfen, welchen Beruf sie ausüben wollen.

Gibt es andere Maßnahmen, die du stattdessen für notwendig hältst?

Emiely: Deutschland müsste zuerst politisch an den Ursachen ansetzen. Ich finde, das Prostituiertenschutzgesetz enthält schon einige Aspekte, die sinnvoll sind, um Sexarbeiter:innen zu schützen. Jedoch sollte man dieses Gesetz definitiv nochmal überarbeiten, denn bevor es 2018 in Kraft trat, haben sich einige Beratungsstellen dazu positioniert und Gegenvorschläge vorgetragen, welche allerdings nicht berücksichtigt wurden. Des Weiteren wäre für mich ein zentraler Ansatzpunkt die Soziale Arbeit. Dieser Bereich sollte weiter gefördert werden, damit auch Beratungsstellen wie Bella Vanilla mehr Kapazitäten zum Helfen haben. Auch in Ausbildung und Studium im sozialen Bereich und in allgemeinbildenden Schulen sollte das Thema Sexarbeit stärker einbezogen werden, um ein gesellschaftliches Umdenken zu bewirken. 

Um die Situation und die Lebensumstände der Sexarbeiter:innen zu verbessern, sollten Ansätze auch am medizinischen Versorgungssystem greifen. Gerade Sexarbeiter:innen, die sich nicht offiziell angemeldet haben, sollten medizinisch versorgt werden können. Auch wenn Gesundheitsämter kostenlose Untersuchungen anbieten, können sie nicht alle medizinischen Aspekte abdecken.

Wie nimmst du den öffentlichen Diskurs wahr? Welche Prognose würdest du über die weiteren Entwicklungen geben?

Emiely: Das Thema ist immer mal mehr und mal weniger präsent in der Öffentlichkeit. Gerade zieht ein Kriminalfall um das Paradise Bordell die Aufmerksamkeit in die Höhe.

(Ex-Bordell-Chef Jürgen Rudloff wurde Februar 2019 der Beihilfe zum Menschenhandel, der Zuhälterei und des Betrugs schuldig gesprochen und erhielt dafür fünf Jahre Haft., Anm. der Redaktion)

Dann ist das Thema zeitweise wieder in allen Medien. Wie sich die Diskussion um das Thema weiterentwickeln wird, ist, besonders mit der noch neuen politischen Spitze, schwer einzuschätzen. Jedoch glaube ich nicht mehr, dass das Nordische Modell in Deutschland eingeführt wird. Das ist allerdings nur ein Bauchgefühl. Aber wenn es kommt, dann wird es auf jeden Fall eine sehr verrückte Zeit. 

Text: Lena Grünert, Titelbild: Lena Grünert, Bild im Beitrag: Patrick Ernst

<h3>Lena Grünert</h3>

Lena Grünert

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im 5. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Redakteur seit dem Sommersemester 2022.