Essay

Mehr Leben, weniger FoMO

von | 1. Dezember 2023

Warum können wir die Gegenwart nicht mehr richtig genießen und haben stattdessen Angst, die Zukunft zu verpassen?

Sie werden am Ende nur das bereuen, was Sie nicht gemacht haben.“ Eine schöne, vermeintliche Lebensweisheit, die einem die Professoren da predigen, wenn sie wieder alles und jeden für die Hochschulprojekte gewinnen wollen. Bei der schier unendlichen Anzahl an Möglichkeiten fragt man sich dann aber doch, wie genau man das bewältigen soll. Denn Mitnehmen, das ist ganz klar, muss man eigentlich alles. Aber nicht nur im Studium, sondern auch in der Freizeit und erst recht beim Onlineshopping. Wer nicht konstant die beste Entscheidung trifft, verliert. Wer nicht ständig höchst effektiv produktiv ist, der vergeudet seine Zeit. Ja, man möchte schon fast sagen: Wer nicht alles macht, der lebt nicht. Jedoch schürt sich daraus eine Angst, die einer Krankheit gleich gerade unter denen zu grassieren scheint, die das ganze Leben noch vor sich haben.

Nicht ohne mich

Seit etwas mehr als 10 Jahren trägt die „Verpassensangst“ nun auch in Deutschland ihren schicken englischen Namen „Fear of Missing Out“, auch weil sich dessen Akronym FoMO wohl etwas eleganter liest. Sie beschreibt ein Gefühl, das sicherlich so alt ist, wie die Gesellschaft selbst: Die Befürchtung, man könnte etwas verpassen, was das eigene Leben verbessern könnte. Wie bei allen irrationalen Ängsten ist der Konjunktiv ihr bester Freund, lässt sie aber auch gleichzeitig so spannend werden. Daraus ergeben sich nämlich nahezu unendlich viele Möglichkeiten, sie in den verschiedensten Lebensbereichen zu erfahren.

In der aktuellen Forschung wird FoMO insbesondere im Zusammenhang mit den sozialen Medien verortet. Wer durch Instagram scrollt und in dieser konstruierten Wirklichkeit lediglich die perfekten Höhepunkte im Leben anderer sieht, bekommt zu Hause auf dem Sofa mit Chips und Netflix schnell das Gefühl, inadäquat zu sein. Doch nicht nur ein gewisses Unbehagen ist der Preis der ständigen Vernetzung. Ironischerweise führt die Angst vor dem Verpassen dazu, dass man mehr verpasst: Wer angibt, von FoMO betroffen zu sein, ist im Vergleich weniger produktiv, schläft schlechter, hat weniger soziale Interaktionen und ist insgesamt in einer schlechteren mentalen Verfassung. Irgendwie klar: Wer ständig online lebt, um bei allem dabei zu sein, der verpasst die Realität.

Oh come, all ye fearful

Doch das Internet hält nicht nur für den Privatverdruss eine Vergleichsplattform bereit. Dank LinkedIn und Co. kann man sich jetzt FoMO auch fürs berufliche Umfeld ins Wohnzimmer holen. Hier ein Workshop, da ein Praktikum, alles brav gepostet, geteilt und warte, hätte sich dieses Projekt nicht viel mehr gelohnt? Vitamin B schadet schließlich nur dem der keines hat, also noch mehr Kontakte scheffeln. Am Ende kennt man Leute, die man gar nicht kennen will, geht auf Events, auf die man gar keine Lust hat und feilt an Kompetenzen, die einem weder liegen noch Spaß machen. Das alles nur, damit man sich später nicht schlecht fühlen muss, wenn es für den einen super Job mit Obstkorb am Arbeitsplatz nicht reicht.

Wenn es weder beruflich noch privat klappen will, dann flüchtet sich die gelernte Kapitalismus-Gesellschaft in was? Richtig, den Konsum. Gute Nachrichten für alle Misanthropen, genau daher kommt auch der Begriff FoMO. Der Marketingstratege Dr. Dan Herman identifiziert das Phänomen 1996 in einer Studie zum Thema Markenführung und erkennt:

„The emerging portrait is of a person […] who is led by a new basic motivation: ambition to exhaust all possibilities and the fear of missing out on something.”

Dr. Dan Herman

Daraus konkludiert er, dass sich Produkte nicht mehr allein durch ihren Nutzen abheben sollten, sondern vielmehr das Gefühl vermitteln müssen, uns entgehe etwas, wenn wir nicht kaufen. Vollkommen egal, ob man das jetzt wirklich braucht oder nicht. Das ist in der heutigen Welt eigentlich ein alter Hut — der Trick mit dem Rabattcode mehr als nur einmal entlarvt. Aber wir tappen trotzdem immer wieder in die Falle. Nein? Da sprechen die diesjährigen Black Friday Statistiken aber eine ganz andere Sprache. Es ist ja auch verlockend und schließlich brauchte man diese eine Sache sowieso schon seit Ewigkeiten. Besser gesagt, seit dem Moment, in dem man das Angebot gesehen hat. Egal, dass es trotz „mega Deal“ noch haltlos überteuert ist, wo man spart, da spart man und dann ist ja auch erstmal gut. Bis Instagram einem den nächsten Promocode ins Feed spült. Als ob der Algorithmus wüsste, dass man sich nach den ganzen schicken „Ich habe ein krasses Leben und du nicht“-Storys wahnsinnig abgehängt fühlt und uns genau dann sagt: „Du hast Angst was zu verpassen? Die geht nur weg, wenn du etwas kaufst, das du nicht brauchst, aber dein Leben verschlechtert, wenn du es nicht hast.“

Es mag daran liegen, dass Social Media immer mehr zum Knotenpunkt unseres Seins wird, dass die FoMO jetzt aktueller ist als bei unseren Großeltern. Mit der Möglichkeit alles ständig und vermeintlich in Echtzeit zu sehen, steigt auch die Gelegenheit uns zu vergleichen. Doch es ist ein Irrtum, dass nur junge Menschen betroffen sind. Dies belegt eine Studie der Washington State University von 2020, in welcher sich kein Zusammenhang zwischen Alter und Ausprägung der FoMO feststellen ließ. Wohl aber seien insbesondere Menschen betroffen, die ein geringes Selbstbewusstsein hätten und sich häufig einsam fühlen. Es ist also ein Teufelskreis: Man ist einsam, geht in die sozialen Netzwerke, um wenigstens parasozial zu interagieren und fühlt sich am Ende noch schlechter, weil man im Vergleich weniger zu erleben scheint als andere. Aber das zeigt auch, dass der eigentliche Knackpunkt des Problems nicht unbedingt Social Media ist. Es ist ein Verstärker, aber Auslöser ist ein anderes Zauberwort: der Vergleich.

Memento mori reverse

Wir vergleichen jeden Tag, unbewusst, ständig. Die Äpfel beim Wocheneinkauf, den einen Künstler X mit Künstlerin Z, aber am liebsten unser Leben mit dem anderer. Das machen wir, um gesellschaftsfähig zu bleiben, denn um nach der Bedürfnispyramide „glücklich“ zu leben, brauchen wir soziale Anerkennung. Wie wir die bekommen, das lehrt uns wiederum die Gesellschaft selbst. Nun ist unsere Gesellschaft aber eben eine, die auf kontinuierliche Verbesserung setzt. Matt Haig schreibt in „Notes on a Nervous Planet“:

„We are not encouraged to live in the present. We are trained to live somewhere else: the future.”

Matt Haig

Haben wir das eine erreicht, verschieben wir uns selbst wieder die Ziellinie. Auch dieses Prinzip hat einen Namen, nämlich „hedonistische Tretmühle“: Egal wie stark negativ oder eben positiv ein Ereignis ist, wir kehren schnell zu unserem Ausgangszustand zurück. Daraus ergibt sich eine unendliche Menge an Dingen, die wir tun müssen, um glücklich zu sein. Das Problem ist, wir haben nur endlich viel Zeit. Daran erinnert uns nicht nur die Werbung, sondern auch die Gesellschaft, ja unser eigenes Spiegelbild jeden Tag. Also müssen wir überall Zeit sparen, weil sie knapp bemessen ist und wenn wir sie schon vergeuden, dann doch bitte wenigstens sinnvoll. Was auf dem Papier vielleicht sinnvoll klingt, birgt aber eine große Gefahr. Nina Paur schrieb Mitte diesen Jahres in der ZEIT:

„[Wir] verlernen dabei etwas Elementares: das Nichtstun.”

Nina Paur

Und sie hat recht. Wir haben so viele Möglichkeiten, bei nur so wenig Zeit, dass wir glauben, wir vertrödeln sie sinnlos, wenn wir mal nicht das Beste oder wieder dasselbe tun. Absolute Todsünde: die Langweile. Wer die hat, hat eindeutig sein Leben nicht im Griff.

Wer das verpasst, ist selber schuld

FoMO ist damit, wie so vieles, mehr als nur eine irrationale Angst. Da wirkt es schon grotesk, wenn die AOK einem rät, doch einfach mal das Handy wegzulegen. Raten die auch Alkoholikern einfach mal nicht zu trinken? Spaß beiseite, Offlinezeiten sind natürlich immer sinnvoll! Das Problem ist aber, dass der Kreislauf nicht aufhört, nur weil man mal nicht auf Insta ist. Denn das Überangebot an dem, was man tun könnte, ist trotzdem da. Da hilft auch keine JoMO. Die „Joy of Missing Out“, also die Freude am Verpassen ist die aktuelle Gegenbewegung für alle, die genug haben vom „Social Media Overload“. Im Kern soll man sich auf das konzentrieren, was einen selber glücklich macht und einfach nicht überall hingehen. Das ist aber eben leichter gesagt als getan und oftmals ist genau das die Wurzel des Problems: Reicht das, was ich mache aus, um mich glücklich zu machen? Diese Frage kann man sich natürlich nur selbst beantworten. Das wiederum kann schwer sein und oftmals weiß man ja auch immer erst hinterher, ob etwas wirklich Spaß gemacht oder einen weitergebracht hat. Aber nicht selten ist im Leben der Weg das Ziel.

Vorfreude, schönste Freude

Um dahin zu kommen, muss man jedoch zwei Sachen akzeptieren: Erstens, die Zeit ist endlich und egal was wir tun, wir werden niemals alles machen können. Wir müssen uns bewusst für oder gegen etwas entscheiden. Zweitens, es wird nicht immer sinnvoll oder „das Beste“ sein und es wird oftmals Zeit kosten. An diesen Sachen wird sich nichts ändern, egal was wir tun. Vielleicht muss es das aber auch gar nicht. Am Ende haben wir nur dieses eine Leben und jede Sekunde davon ist wertvoll, das stimmt. Aber diese wird nicht weniger wertvoll, weil wir in ihr nichts „sinnvolles“ tun. Im Gegenteil, erst dadurch werden die wirklich schönen Momente möglich. Das klingt etwas nach Kalenderspruch, zugegeben. Dennoch, alles Neue, was wir tun, egal ob Serie, Party, Projekt oder Einkauf, verlangt uns Leistung ab. Machen wir mal nichts oder eben dasselbe wie immer, dann schonen wir quasi unsere Ressourcen. Im Grunde ist Langeweile für unseren Geist, was Schlaf für unseren Körper ist. Aber die Angst ist nicht nur etwas, sondern das bessere zu verpassen. Denn wir entscheiden, was das Beste ist. Beispiel gefällig?

Eigentlich ist bei Weihnachten FoMO vorprogrammiert. Man hat nicht ganz vier Wochen für unendlich viele Dinge, die man nur einmal im Jahr machen kann und vor allem muss. Es ist immer etwas stressig und man schafft nie all das, was man machen wollte. Schlussendlich ist es immer egal, ob jetzt der Weihnachtsmarkt hier oder da besser gewesen wäre, ob man nur einmal, viermal oder keinmal Plätzchen gebacken hat und dass alles wieder so chaotisch wird wie immer. Jedes Jahr freut man sich einfach wieder darauf, ohne dabei zu denken, man würde etwas verpassen. Warum? Weil Vorfreude mehr Spaß macht als FoMO. Man kann nicht jeden Moment, aber doch die Freude darauf bewusst genießen. Schließlich wird es ja doch immer irgendwie und wenn nicht, dann macht man eben das Beste daraus. Manchmal ist das besser, als das eigentliche Ideal. Wenn wir aufhören, uns zu sehr auf die Sache selbst zu konzentrieren und mehr auf alles, was mit ihr verbunden ist, dann leben wir vielleicht auch öfter im Jetzt. Von daher, meine geschätzten Professoren, ändert doch euren Wahlspruch in: „Sie werden am Ende nur das bereuen, was Sie auch bereuen wollen!“

Text und Titelbild: Anni Lehmann
<h3>Anni Lehmann</h3>

Anni Lehmann

Anni Lehmann ist 22 Jahre alt und studiert derzeit im 4. Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Seit dem Sommersemester 2023 engagiert sie sich als Chefredakteurin bei medienMITTWEIDA.