Lovemobil

Zwischen Erfolg und Betrug

von | 27. Mai 2021

Ein Dokumentarfilm erschüttert die Glaubwürdigkeit des NDR. Wie weit dürfen Produzenten die Realität nachstellen?

,,Lovemobil” ist ein Dokumentarfilm, der das Leben zweier Sexarbeiterinnen aus Bulgarien und Nigeria begleitet, die sich in Wohnmobilen am Rande niedersächsischer Bundesstraßen in der Nähe von Gifhorn prostituieren. Die Regisseurin Elke Margarete Lehrenkrauss und der Kameramann Christoph Rohrscheidt verbrachten drei Jahre damit, die Geschichte von Milena und Rita zu dokumentieren und zu erzählen. Die Autorin beschrieb den Film wie folgt: „Der Film ist in seiner Tiefe kein Film über Prostitution, sondern ein Film über eine Sackgasse des globalisierten Kapitalismus und jene, die er am härtesten trifft und die mit allen Mitteln ums Überleben und eine Zukunft kämpfen.“ Die Autorin erstellte den Dokumentarfilm ohne Kennzeichnung inszenierter Stellen. Nichts ahnend veröffentlichte der NDR die Dokumentation, in dem Glauben Protagonisten und Ereignisse würden real existieren. Eine Debatte um die Frage, was ein Dokumentarfilm darf oder nicht darf entfachte und erhitzte bundesweit die Gemüter von Medienschaffenden und Rezipienten gleichermaßen.

Dieser Text ist Teil einer Reihe von Beiträgen zum Thema „Lovemobil“, im Rahmen eines Hintergrundberichtes und eines Kommentars

Die Background-Story: Was ist „Lovemobil“?

Die Produktion des Dokumentarfilms „Lovemobil“ wurde Anfang 2015 in Auftrag gegeben und lief 2019 in der ARD-Mediathek. Elke Margarete Lehrenkrauss erhielt für die Dreharbeiten Unterstützung von Nordmedia, einer Medien-Förderungsgesellschaft für Film-, TV- und interaktive Medien, dem NDR als Ko-Produzent und der Stiftung Kulturregion Hannover. Insgesamt hatte sie eine Summe von ca. 90.000 Euro inklusive Stipendium für den Beitrag zu Verfügung. Des Weiteren erhielt sie redaktionelle Unterstützung durch den Redakteur Timo Großpietsch seitens der Öffentlich-Rechtlichen. Der NDR bekam für die Ko-Produktion des Filmes eine Gegenleistung in Form einer Streaming-Lizenz für ihre Mediathek. Nach Veröffentlichung gewann Lehrenkrauss mit „Lovemobil“ den SWR & MFG Baden-Württemberg gestifteten Deutschen Dokumentarfilmpreis und wurde für den renommierten Grimme-Preis in der Kategorie Information & Kultur nominiert. Ein preisgekrönter Dokumentarfilm, über ein brisantes gesellschaftliches Thema. Ist die Geschichte zu gut, um wahr zu sein?

Aufdeckung einer Täuschung

Diese Frage stellten sich im April auch die Reporter von STRG_F. Im Zuge ihrer Recherchen entstand eine Reportage, in welcher die Journalistin Mariam Noori den anonymen Hinweisen einer Fälschung auf den Grund geht. Schnell verdichten sich die Hinweise und folgenschwere Beweise kommen ans Licht. Ohne sie wäre das vermutlich nie möglich gewesen: Irem Schwarz ist Editorin und hat bei ,,Lovemobil“ im Videoschnitt mitgewirkt. Sie war es, die STRG_F die belastenden Hinweise zukommen ließ. Darunter waren einige gravierende Anschuldigungen. So soll die Editorin folgende Anweisung von Frau Lehrenkrauss zur Abnahme des Films bekommen haben: „Wenn er fragt `ist das  echt?´, dann ist es echt.“

Die Reporter zeigten in dem Video eindeutige Beweise, dass die Protagonisten im Film engagierte Laiendarsteller sowie professionelle Schauspieler sind. Einige der vorkommenden Figuren gaben vor der Kamera an, nichts von einer Dokumentation gewusst zu haben. Darunter Heiko, der den Zuhälter Manni spielt sowie sein Kollege Freier Hermann. „Wir waren Schauspieler ohne Drehbuch. Ich habe gedacht, es handle sich um einen Spielfilm“, so der Manni-Darsteller gegenüber STRG_F.

Aber Lehrenkrauss ging noch weiter. Dramatische Elemente wie der Mord an einer Prostituierten seien ebenso frei erfunden wie die Echtheit der Personen. Nach Recherchen von STRG_F soll Uschi, die Wohnwagenvermieterin, die einzig existierende Person sein.

Am Ende konfrontiert die Redakteurin Lehrenkrauss in einem Interview mit allen Vorwürfen. Sie gibt zu, dass die im Film vorkommenden Sexarbeiterinnen in Wirklichkeit nie dort gearbeitet haben. Die echte Rita soll angeblich schwanger geworden sein, weshalb sie durch eine Laienschauspielerin ersetzt wurde. Lehrenkrauss meint daraufhin: „Die Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität.“ 

Diese Aussage sorgte für einen medialen Aufschrei. Darf Lehrenkrauss einfach so die Realität “authentisch” nachstellen? Oder ist dieser Fall wie ein perfektes Beispiel eines Betrügers, der die Wirklichkeit nur nach seinen Vorstellungen gestaltet? Diesen Fragen stellten sich auch die Teilnehmer des Zapp Specials „Lehren aus Lovemobil“. Stephan Lamby, Journalist, Autor und Produzent, sprach über den entstandenen Schaden, den ,,Lovemobil” angerichtet hat. ,,Filme, Dokumentarfilme, sind eine Sprache. Das Publikum muss sich darauf verlassen können, dass wir korrekt sprechen, uns um Präzision bemühen. Der Film ,,Lovemobil” hat alles andere als eine korrekte Ausdrucksweise. Meine Sorge ist, dass man uns künftig dieses Misstrauen entgegenbringt.” Zur Frage ob man das darf, antwortet Lamby: ,,Man darf fast alles im Dokumentarfilm, solange es überprüfbar ist oder der Zuschauer den Unterschied erkennen kann.” Hier nennt er den feinen Unterschied, worin ,,Lovemobil” sich von anderen Dokumentarfilmen abhebt: ,,Der Film hat den Eindruck erweckt, die Kamera wäre dabei, während solche Situationen passieren.” Er distanziert sich in dem Zapp Beitrag klar von ,,Lovemobil” als Dokumentarfilm, betont aber ,,den großen wirtschaftlichen und Erwartungsdruck, den Autoren gegenüber der Redaktion haben.” Er sagt: ,,Wenn Redakteure die Dokumentarfilme redaktionell begleiten, sollten sie selber mal den Erwartungsdruck spüren, dann würde sich auch die Sensibilität für handwerkliche Fragen anders entwickeln.”

LOVEMOBIL – Dokumentarfilm über Prostitution gefälscht?  Quelle: STRG_F

Wie steht der NDR dazu? Wie konnte es dazu kommen? 

,,Der NDR vertraut auf das vier-Augen-Prinzip zwischen Redaktion und Produktion. Dazu gehören verschiedene Regeln und Mechanismen, die Täuschungen verhindern sollen. Alle Filme werden redaktionell und manchmal juristisch abgenommen. Dabei achtet die Redaktion auf die Dramaturgie, aber auch auf Faktentreue und Plausibilität des Gezeigten oder Gesagten”, so die Pressestelle des Norddeutschen Rundfunks in ihrer Stellungnahme. Des Weiteren räumte der NDR ein, bei den Dreharbeiten des Dokumentarfilms nicht dabei gewesen zu sein. Hierbei betonte die Pressestelle, dass gegenseitiges Vertrauen besonders wichtig ist. ,,Die Redaktion muss sich darauf verlassen können, dass die Autor*innen das vereinbarte Produkt abliefern und dabei journalistische Standards beachten.”

In einem Dokument zur Planung des Beitrags, genannt Treatment, werden Anmerkung der Redaktion, Thema sowie Genre besprochen und in einem Vertrag festgehalten. Wenn berechtigte Zweifel bei der Abnahme bestehen, müssen Belege vorgelegt werden, so der NDR.

Zwischen Realität und Kunst

In der offiziellen Stellungnahme zum Fall ,,Lovemobil” schreibt der NDR: ,,Die im Vertrag von 2014 vereinbarten Regelungen verpflichten Frau Lehrenkrauss, einen Dokumentarfilm und keinen fiktionalen Film zu produzieren. Die Autorin hat gegenüber dem Redakteur Timo Großpietsch nie erwähnt, dass Szenen nachgespielt werden oder inszenierte Elemente beinhalten. ,,Sie hat immer wieder in Interviews den Fakt unterstrichen, wie authentisch und echt doch ihre Dokumentation war.”

Als Reaktion auf die Behauptung, die Regisseurin hätte den NDR gebeten, die Doku als künstlerisch zu kennzeichnen, veröffentlichten die Öffentlich-Rechtlichen den Entwurf ihres Pressetextes:

„Weit weg vom Stil einer journalistischen Dokumentation, grenzt sich „Lovemobil“ durch seine atmosphärische Bildgestaltung und filmische Herangehensweise als künstlerische dokumentarische Form klar ab.“

Laut NDR sei hierbei nicht erkennbar, dass Protagonisten erfunden, ersetzt oder Szenen nachgespielt wurden, weshalb der NDR diesen Absatz nicht als notwendig empfand und rausgestrichen hat.

Dazu schrieb der NDR weiterhin, dass auch künstlerische Dokumentarfilme der Realität verpflichtet sind.

Lehrenkrauss in der Defensive 

Nach etlichen, überwiegend kritischen Presseartikeln und starken Vorwürfen, stellte sich Lehrenkrauss einem Interview mit der Zeit und Artechock, in welchem sie tiefe Einblicke in die Entstehung sowie die Verträge des NDR gewährt. Weiterhin nimmt sie Stellung zu den Vorwürfen der Reporter von STRG_F.

Darin bestreitet sie, jemals gesagt zu haben, dass die Cutterin die Szenen als echt darstellen sollte. Außerdem behauptet sie, Freier Hermann und Zuhälter Manni zu keinem Zeitpunkt über den Charakter der Dokumentation belogen zu haben. ,,Ich habe niemals das Wort „Spielfilm“ in den Mund genommen. Aber ich glaube, die haben uns nicht wirklich ernst genommen.“

Weiterhin sagte Lehrenkrauss zu den Journalisten von Artechock, dass das Interview mit STRG_F sehr einseitig war. „Ich fühlte mich wie vor einem Gericht, auf der Anklagebank. Die hatten eine These und wollten sie bestätigen.“

Die Schuldfrage 

Das Portal Artechock wertete auch den Vertrag zwischen Elke Margarete Lehrenkrauss und dem NDR aus. Darin erkannten sie mehrere Widersprüche der Öffentlich-Rechtlichen. Die im Statement des NDR dauerhaft erwähnte Produktleistung „Dokumentarfilm“ sei in keinem der Verträge aufzufinden, weder im Erstvertrag, noch im Zweitvertrag.

Anja Reschke, Leiterin des Programmbereichs Kultur und Dokumentation im NDR, gab Lücken im Vertrag zu. So meinte sie gegenüber Jung und Naiv: „In dem Vertrag steht alles Mögliche drin, aber es steht nicht drin, dass es sich um ein journalistisches Produkt handeln muss, weil es so klar ist, dachten wir.“

Weiterhin gab sie zu, die große Bandbreite zwischen künstlerischer und journalistischer Dokumentation erst so richtig in dem Zapp Special verstanden zu haben. 

Susanne Binninger, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Dokumentarfilm beschrieb die Bandbreite zwischen journalistischer und künstlerischer Dokumentation wie folgt: „Diese hybriden Formen, in denen dokumentarisches und inszeniertes ineinander übergehen, diese sind ein Subgenre des dokumentarischen Filmschaffens. Die gibt es überall. Aktuell ist einer dieser Filme im Rennen um den Oscar.“ In dem Zapp Special betont sie mehrmals, dass es ein Genre im dokumentarischen Film sei, welches auch nicht ausgezeichnet werden müsse. Allerdings betont sie den klaren Unterschied zu ,,Lovemobil”. ,,Die Regisseurin hat ganz offen darüber gesprochen, dass die Hauptfigur gecastet ist. Es ist eine offene Frage, wie damit umzugehen ist.“

Wer sich selbst ein Bild über den Dokumentarfilm machen möchte, kann diesen ab Juni in der Blue Box im Sprengel Museum in Hannover begutachten. 

Text: Duc Vu Manh, Titelbild: Luzie Carola Rietschel

<h3>Anna Koutsidis</h3>

Anna Koutsidis

ist 21 Jahre alt und studiert derzeit im vierten Semester Medienmanagement an der Hochschule Mittweida. Bei medienMITTWEIDA engagiert sie sich als Chefredakteurin seit dem Sommersemester 2021.