Von sequenzierter DNA eines Mammuts über den ersten von der WHO genehmigten Impfstoff gegen Malaria bis hin zu einem Weltraumteleskop, das in die Vergangenheit blickt und die größten Fragen der Menschheit beantworten könnte – im Jahr 2021 wurden viele wissenschaftliche Errungenschaften erzielt. Besonders im Bereich der Mikro-Robotik ist Forschern ein Durchbruch gelungen: sich selbst vermehrende Xenobots.
Von einer Simulation zur Wirklichkeit
Was wie ein futuristisches Computerprogramm aus einer Science-Fiction-Serie der Couchkritik klingt, sind tatsächlich von Menschen erschaffene, millimetergroße Roboter. Diese entstanden aus Stammzellen des afrikanischen Frosches Xenopus laevis, dem sie ihren Namen zu verdanken haben.
Der Name „Xenobots“ leitet sich von der wissenschaftlichen Bezeichnung des Krallenfrosches, Xenopus laevis, ab. Grafik: Brian Gratwicke (bearbeitet von Luzie Carola Rietschel)
Die Xenobots wurden von Forschenden der University of Vermont, der Tufts University und dem Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering der Harvard University entwickelt. Finanziert wird das Projekt von der DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), einer Behörde des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten. Alle genannten wissenschaftlichen Erkenntnisse beziehen sich auf die Forschungsstudie zum Thema.
Begriffserklärung DNA und Stammzellen
DNA ist die englische Abkürzung für Desoxyribonukleinsäure. Es ist eine Art Bauanleitung für alle Teile eines Lebewesens und trägt die Erbinformationen.
Stammzellen sind Zellen, die sich teilen können und so eine Kopie von sich erstellen. Damit sind sie in der Lage, sich in verschiedene Zelltypen oder Gewebe auszudifferenzieren. Im Falle der Xenobots entwickeln sie sich zu Haut- und Herzmuskelzellen.
Wenn von Robotern gesprochen wird, denkt man meist an humanoide Maschinen aus Metall. Bei den Xenobots handelt es sich aber um biologische, lebende Wesen, die Menschen für sich nutzen können. Joshua Bongard, Robotikexperte und Computerwissenschaftler, erklärt:
They’re neither a traditional robot nor a known species of animal. It’s a new class of artifact: a living, programmable organism.
Sie sind weder ein klassischer Roboter noch eine bekannte Tierspezies. Es ist eine neue Art: ein lebender, programmierbarer Organismus.
Zuerst wurden die Organismen in komplexen Simulationen mit einem Supercomputer konstruiert. Eine künstliche Intelligenz berechnete über mehrere Monate hinweg mögliche Zusammensetzungen der Zellen. Tausende Designs wurden in verschiedensten Formen kreiert. Die besten Varianten filterte der Algorithmus schrittweise heraus und verfeinerte sie. Ausgewählt wurden diese zum einen anhand der biophysikalischen Grundlagen, was eine Froschzelle leisten kann. Zum anderen spielten die gewünschten Verhaltensziele und Fähigkeiten eine Rolle. Das heißt, dass beispielsweise Zellen ausgewählt wurden, die bestimmte Aufgaben wie das Bewegen zu einem Objekt hin erfüllen konnten. Im Labor wurden anschließend die Simulationen in die Realität umgesetzt. Dazu sammelten die Forschenden Stammzellen aus den Embryonen der Frösche, schnitten diese unter dem Mikroskop zurecht und setzten sie anhand der Designs neu zusammen. Die folgende Grafik veranschaulicht den Vorgang:
Ein Algorithmus erstellte Bausteine für die Haut- und Herzmuskelzellen und entwickelte daraus resultierende, mögliche Populationen. Grafik: Lena Friedrich
Es entstand ein Organismus, welcher in der Natur noch nie vorgekommen ist. Herzmuskelzellen ermöglichten es ihm, sich eigenständig fortzubewegen. Gleichzeitig wurde nach einigen Experimenten festgestellt, dass die Xenobots ihre Umgebung erforschten, in Gruppen zusammenarbeiteten und sich selbst heilten.
Pac-Man-Babys
November 2021. Die Sensation: Bei den Xenobots wurde eine völlig neue Form der Fortpflanzung entdeckt. „Das ist tiefgreifend“, so Michael Levin, Biologe und Ko-Leiter des Projekts. „Diese Zellen haben das Genom eines Frosches. Aber davon befreit, Kaulquappen zu werden, nutzen sie ihre kollektive Intelligenz und ihre Plastizität, um Erstaunliches zu vollbringen.“ Auch Sam Kriegman, einer der Hauptautoren der neuen Forschungsstudie, stellt fest: „Das sind Froschzellen, die sich ganz anders fortpflanzen als Frösche. Kein bekanntes Tier und keine Pflanze vermehrt sich auf diese Weise.“ Die Forschenden sprechen von einer „spontanen kinematischen Selbstreproduktion“.
Während mit den Xenobots experimentiert wurde, wuchsen deren Zellen zu Tausenden zusammen und bildeten eine Kugel. Ließ man die neuen Kugel-Formen in einer Flüssigkeit mit freien Stammzellen schwimmen, schoben diese deren Zellmaterial zu winzigen Haufen zusammen. Nach wenigen Tagen bildete sich aus den zusammengeschobenen Klumpen des Stammzell-Materials Nachwuchs. Um die Fortpflanzungsfähigkeit zu stärken, sodass mehr Zellmaterial zusammengekehrt werden kann, berechnete die künstliche Intelligenz die geeignetste Form der Xenobots. So sahen die Zellen der Elterngeneration aus wie kleine „Pac-Men“, bekannt aus dem legendären Videospiel der 80er Jahre. In einem Film der University of Vermont wird die Entdeckung mit echten Bildern aus dem Mikroskop zusammengefasst:
Hoffnung für die Zukunft
Anders als maschinelle Roboter sind Xenobots komplett biologisch abbaubar. Wenn sie ihre Arbeit erledigt haben, sterben sie ab und übrig bleiben nur tote Hautzellen. Die wabbeligen Organismen sind aber nicht nur als eine aus dem Labor stammende, neue Lebensform zu betrachten, sondern sie könnten der Menschheit nutzen und zu einer besseren Zukunft beitragen. Mit ihrer Fähigkeit, Lasten zu transportieren, könnten sie laut der Forschungsstudie zum Beispiel Mikroplastik im Meer beseitigen oder Giftstoffe und radioaktive Materialien einsammeln. Gleichzeitig wird ihr hilfreiches Potential bei klinischen Anwendungen wie dem Verabreichen von Medikamenten oder dem Lokalisieren von Krankheiten erkannt. Große Hoffnung besteht auch im Bereich der regenerativen Medizin: Xenobots als Lösung für traumatische Verletzungen, Geburtsfehler, Krebs und das Altern. Doch momentan liegt der Fokus auf der weiteren Forschung, um zu lernen und zu verstehen, wie Leben entsteht. Autor Joshua Brown erklärt:
Some people may find this exhilarating. Others may react with concern, or even terror, to the notion of a self-replicating biotechnology. For the team of scientists, the goal is deeper understanding.
Manche Leute finden das womöglich aufregend. Andere reagieren vielleicht mit Besorgnis oder sogar Entsetzen auf die Vorstellung einer sich selbst replizierenden Biotechnologie. Das Ziel des Wissenschaftlerteams ist ein tieferes Verständnis.
Titelbild: Lena Friedrich, Grafik: Brian Gratwicke (bearbeitet von Luzie Carola Rietschel), Video: YouTube/University of Vermont