Schmale Gänge, wenig Ausweichmöglichkeiten, zusammen mit vielen fremden Menschen auf einem Fleck: Mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, scheint seit dem ersten Lockdown nicht besonders beliebt zu sein. Doch die Gefahr, sich mit dem Corona-Virus anzustecken, ist vermutlich nicht der einzige Grund dafür. Wie Grenzen überschritten werden, bewegt und erschüttert mich während drei Zugfahrten wirklich sehr.
Rücksicht – Fehlanzeige!
Sonntagnachmittag. Die Landschaft rast in Sekundenschnelle an mir vorbei. Ich sehe weite Felder, grüne Wälder und verlassene, graffitibeschmierte Gartenhäuschen. Mit mir im Abteil befindet sich eine ältere Frau mit grauen Haaren, vom Alter her vermutlich einer der Risikogruppen zuzuordnen. Ein junger Mann steigt ohne Maske ein und setzt sich nur knapp zwei Meter von mir entfernt. Bei dem Gedanken, dass meine FFP2-Maske die einzige Barriere gegen die von diesem Fahrgast möglicherweise ausgeatmeten Corona-Viren sein könnte, breitet sich in mir ein ungutes Gefühl aus. Aber ich vertraue auf die in den Regionalnachrichten angekündigten, verschärften Kontrollen in Sachsen. Einige wenige Minuten nach Abfahrt kontrolliert die Zugbegleiterin die Tickets und bittet den maskenlosen Fahrgast höflich, diese aufzusetzen. Prompt kommt er der Bitte auch nach. Sobald sie jedoch außer Sichtweite ist, setzt er diese geradezu dreist wieder ab. Währenddessen telefoniert er mit einem Freund und berät sich, welche Biersorte wohl die passendste für eine Camping-Party sei. Die Frau im Gang blickt sich mit besorgter Miene um. Nach kurzem Zögern fordert sie ihn entschlossen dazu auf, die Maske wieder aufzusetzen: „Schließlich herrscht im gesamten Zug eine Maskenpflicht.“ Genervt antwortet er darauf: „Ja, ja. Hab‘ ich doch. Panische Leute überall…“ Nun bin ich etwas erleichtert, denn es scheint, als würde er sich an die Regeln halten. Ich beobachte, wie die ältere Dame vorsichtshalber ein paar Plätze weiter rückt, woraufhin der eben noch belehrte Fahrgast ein extra lautes, gekünsteltes Husten aufsetzt. Nachgeworfene Mahnungen der Frau, wie: „Das ist nicht lustig. Das ist sehr ernst“, bleiben absolut wirkungslos. Ich frage mich in diesem Moment, ob ihn die Angst vor einem weitgehend unerforschten Virus, das stetig weiter mutiert, bleibende Long-Covid-Schäden verursachen kann und immer mehr Todesopfer fordert, tatsächlich belustigt. Ich bin erleichtert , als er an der nächsten Station aussteigt. Doch seine zum Abschied durch den Zug schallenden Worte: „Scheiß Hygiene-Corona-Tussis!“ lösen leider dieses kurze Gefühl der Erleichterung wieder auf und lassen mich nachdenklich werden.
Die Bereitschaft, sich an Regeln, beispielsweise dem Tragen eines Mund-Nasenschutzes, zu halten, sinkt nach einer Befragung des Mitteldeutschen Rundfunks seit Dezember 2020. Bei circa 37 Prozent der Teilnehmer ginge diese zurück. Die Mitteldeutsche Regiobahn schätzt die Situation in ihren Zügen folgendermaßen ein:
„Vereinzelt kommt es zu Diskussionen und in seltenen Fällen muss die Bundespolizei zur Unterstützung hinzugezogen werden.“
Die beabsichtigte Missachtung von gesellschaftlichen Regeln, Normen und Gesetzen zählt zu antisozialen Verhaltensmustern. Damit einher gehen unter anderem das rücksichtslose Gefährden der Sicherheit anderer und von einem selbst sowie die Neigung zu aggressivem und gewalttätigem Handeln. Schon vor der Pandemie stellte man bei einer Forsa-Studie fest, dass solche Verhaltensweisen, insbesondere gegenüber Staatsdienern und Autoritätspersonen, zunehmen. Jeder Zweite ist bereits Opfer eines körperlichen oder verbalen Angriffs geworden und fast 90 Prozent der Betroffenen wurden schon einmal beleidigt. Die Corona-Krise intensiviert das Problem. Die Bahn verzeichnete letztes Jahr, dass mindestens jeder fünfte Vorfall hinsichtlich Beleidigungen, Bedrohungen und Nötigungen im Zusammenhang mit Corona steht.
Die Landschaft rast in Sekundenschnelle an mir vorbei. (Symbolbild)
Randale und Rausch
Dienstagabend. Heute ist leider keine Zugbegleitung im Einsatz, wahrscheinlich aufgrund von Bauarbeiten und mehrfachem Schienenersatzverkehr. Ich sitze alleine im Abteil und beobachte im Vorbeifahren ein kleines Reh am Waldrand. Der Zug rattert dröhnend über die Schienen. Nach einigen Stationen steigt ein junges Paar in Bomberjacken ein. Mit dabei ein Beutel voller klirrender Glasflaschen. Aufgedreht kichern sie über irgendein Video auf ihrem Handy. Sekunden später nimmt die Hemmungslosigkeit ihren Lauf. Die beiden Streitsuchenden fangen an, auf Tische und Wände in Richtung erster Klasse zu boxen. Schallend grölen sie: „Mach schon auf! Mäuschen, Mäuschen Piep einmal!“ Unbehaglich verkrieche ich mich weiter in meinen Sitz und hoffe, dass man mich nicht bemerkt. Schrilles Lachen. Polterndes Treten. Zehn erschreckende Minuten lang. Erst dann öffnet der Zugführer an einem Halt die Tür und stellt sie zur Rede: „Was soll denn das? Ihr schreit hier rum und randaliert!“ Als Antwort erhält er nur dreckiges Gelächter. Schließlich wirft er sie wutentbrannt aus der Bahn: „Raus! Sofort!“
Der nach einer Recherche von medienMITTWEIDA festgestellte erhöhte Alkoholkonsum während der Pandemie kann aggressives Verhalten verstärken. Sehr impulsive Personen mit mangelnder Stresstoleranz neigen eher dazu, unter Alkoholeinfluss aggressiv zu agieren. Genussmittel sind aber nicht der alleinige Auslöser. Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen momentan gereizt reagieren. Aggressives Verhalten wird von genetischen Komponenten und Umwelteinflüssen bestimmt. Wesentliche Ursachen sind unter anderem Frust, Ängste, Überforderungen und Stress – alles Faktoren, die aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie stärker hervortreten. Keine Treffen im Freundeskreis und abgesagte Veranstaltungen seit über einem Jahr frustrieren. Neben der Angst vor Ansteckung mit dem Virus gibt es vermehrt berufliche Unsicherheiten und davon fühlen sich viele existentiell bedroht. Kommt dann auch noch der alltägliche Stress hinzu, verlieren manche Personen leichter die Kontrolle über die eigene Handlungsweise. In Kombination mit Wut wird die aufgestaute Kraft an Menschen oder Dingen ausgelassen.
Alleine im Abteil (Symbolbild)
Die Menschlichkeit stirbt als Erstes
Neue Woche. Montagnachmittag. Wenn man glaubt, es geht nicht schlimmer, wird man meist eines Besseren belehrt. Es handelt sich hier leider nicht um eine Szene aus einer Netflix-Serie. Graue, dichte Wolken verdunkeln den Himmel. Die Stimmung ist angespannt. Direkt neben dem Eingang des Waggons fällt mir ein etwas nervös wirkender Mann auf, dessen Maske unter der Nase sitzt. Er raschelt immer wieder mit seiner Einkaufstüte und lässt die Tür der Zugtoilette offenstehen, sodass diese bei jeder Kurve laut krachend zuschlägt. Ab und an vernehme ich von ihm ein paar Wortfetzen über Bismarck, über den er sich mit einem anderen Fahrgast eingängig unterhält. Das Knallen und Knistern bereitet mir nach einer Stunde zunehmend Kopfschmerzen. Plötzlich stellt er Musik in voller Lautstärke an. Die Zugbegleiterin rauscht hinein ins Abteil und weist ihn zurecht: „Stellen Sie das bitte umgehend ab, das stört.“ Der Mann antwortet mit gefährlich leiser Stimme: „Finger weg! Provozieren Sie mich nicht.“ Etwas irritiert antwortet sie: „Ich provoziere nicht. So geht es hier aber nicht“ und wendet sich nach Abschalten des Tons wieder den anderen Abteilen zu. Als sie außer Hörweite ist, beginnt der Zurechtgewiesene ein scheinbares Selbstgespräch: „Du kannst mich mal am Arsch lecken mit deinem Saftladen, du kleine Ratte. So verhalten die sich, wenn sie untervögelt sind. Der sollte man auf die Schnauze schlagen. Mehrfach. Bis nix mehr geht.“ In diesem Moment muss ich erstmal realisieren, was ich da eben aus dem Mund dieses Fahrgastes vernommen habe. Es ist kaum zu glauben, dass jemand imstande ist, solche sexistischen, unmoralischen und brutalen Aussagen über die Lippen zu bringen. Ich fühle mich wie in einem Irrenhaus. Folgend schaffe ich es nicht mehr, seine Bemerkungen auszublenden. Kurz vor der nächsten Station nähern sich zwei Frauen mit ihren Kindern aus dem vorderen Teil des Waggons dem Ausgang. Ihrem Aussehen nach handelt es sich dabei um eine muslimische Familie. Der Zug bremst ab und kommt zum Stehen. Die Familie muss sich beim Aussteigen an dem Mann vorbei zwängen, der ihnen mit erschreckend ausgeprägter Rhetorik hinterherruft: „Überall die Kopftuchschlampen. Die breiten sich aus wie eine Seuche!“ Die Frauen haben die Bemerkung erkennbar verstanden und beschleunigen deshalb unruhig ihre Schritte. Mir wird schnell bewusst, dass diese verbalen Abgründe menschlicher Denkweisen der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind. Der Mann redet gefasst weiter: „Es sollte ein Ausländerabschlachten geben. Die Rumänen haben es damals richtig gemacht, die haben sie hingerichtet. Sollte man auch mit der Merkel machen. Weiterzuleben haben die nicht verdient. Das kannst du nicht wieder gut machen. Die sollten sich freiwillig exekutieren.“
Die Antidiskriminierungsstelle (ADS) des Bundes verzeichnete im Corona-Jahr eine Steigung der gemeldeten Fälle um 78 Prozent. Jede dritte Anfrage bezog sich dabei auf Rassismus. Corona hatte mit fast 2000 Fällen in diesem Zusammenhang einen deutlichen Anteil. Bernhard Franke, Leiter der ADS, meint aber:
„Selbst ohne den Sondereffekt der Pandemie hätten wir 2020 den stärksten Anstieg erlebt.“
Die Regionalbahn macht in ihrem Blog auf die Alltäglichkeit der Vorfälle aufmerksam und gibt Tipps, wie man als Fahrgast eingreifen oder helfen kann. Für mich geht es nächsten Dienstag wieder mit dem Zug durch Sachsen. Ich bin gespannt, was mich dann erwartet. Vielleicht wird es diesmal eine „gute Fahrt”.
Steht unsere Gesellschaft vor einer unvermeidbaren Veränderung? (Symbolbild)
Text: Lena Maria Friedrich, Titelbild: Luzie Carola Rietschel, Symbolbilder: SeppH/pixabay, succo/pixabay, Luzie Carola Rietschel