Theater

Hinter dem Vorhang

von | 28. September 2019

Eigentlich studiert sie, heute Nacht spielt Vanessa aber die Hauptrolle im Musical Aida.

Theater

Hinter dem Vorhang

28. September 2019

Über die Nacht schlüpfen sie in ihre Rollen: Vanessa Potzel und Noah Kutscher als Aida und Mereb. Titelbild: Lisa Köhlmann

Durch den dicken schwarzen Vorhang dringt hektisches Geflüster und das Geräusch von nackten Füßen, die über den kalten Steinboden flitzen. Der Raum ist in intensiv blaues Licht getaucht, gerade hell genug, um sehen zu können. Ihre Augen haben sich schon längst daran gewöhnt und sind stattdessen auf den Bildschirm vor ihr fixiert, verfolgen jeden Schritt, jede Bewegung der jungen Frau im roten Kleid.

Unverhofft kommt oft

„Ich hatte mir nie überlegt, beim Theater mitzumachen,“ lacht Vanessa. Die 23-Jährige ist klein, hat wilde dunkle Locken und ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Auch sie trägt ein rotes Kleid. Beim Studierendentheater „Hochschulbühne am Schwanenteich“ ist sie nur gelandet, weil ein Freund sie dazu überredet hat. „Ich hätte nie damit gerechnet, die Hauptrolle zu bekommen. Als es hieß ‚und unsere Aida spielt die Vanessa‘ habe ich mich erstmal nach links und rechts umgeschaut. Ich kannte die Namen alle noch nicht. Doch dann bekam ich schon eine Umarmung von links und dachte nur: ‚Oh Gott, meinen die mich?‘“

Ihr erstes Musical ist Aida allerdings nicht. Bereits im Gymnasium hat sie in mehreren Produktionen mitgespielt, doch nach vier Jahren Pause fühlt es sich dennoch an wie ein kompletter Neustart. Das Stück erzählt die Liebesgeschichte der nubischen Prinzessin Aida und des ägyptischen Heerführers Radames, deren Länder sich im Krieg befinden. Die Rolle der Aida teilt sie sich mit ihrer Kommilitonin Lätizia, die beiden proben und spielen abwechselnd. „Was ich mir von Lätizia abschaue, ist das Schauspiel. Sie hat schon in den letzten beiden Produktionen mitgemacht und das merkt man auch wirklich. Was das Schauspiel betrifft, ist sie viel sicherer auf der Bühne als ich.“

Reden ist Silber

Im Requisitenlager sind in einem kleinen abgetrennten Bereich viele Monitore und Mikrofone aufgestellt. Die Gesangskabine ist eigentlich für Ensemblemitglieder gedacht, um den Chor in Szenen zu unterstützen, in denen sie selbst nicht auf der Bühne sind. Für Vanessa hingegen ist es der perfekte Ort, um Lätizia in Ruhe bei ihrer Probe beobachten zu können, ohne irgendjemandem im Weg zu sein.

Ein paar Szenen später huscht Vanessa mit ihrem Textbuch in der Hand hinter dem Vorhang entlang bis ganz nach vorne und stiehlt sich unauffällig in den Zuschauerraum, um die Szene von Nahem ansehen zu können. Das Textbuch braucht sie eigentlich nicht mehr, aber es gibt ihr Sicherheit. Sie beobachtet die Szene, spricht im Kopf den Dialog mit und wartet auf den nächsten Song. Als Aida wieder mit sprechen dran ist, verstummt Lätizia, ringt nach Worten und schaut schließlich hilfesuchend zu Vanessa. Ohne in ihr Textbuch zu schauen, ruft Vanessa „Mein Vater und ich“, doch sie ist schon den ganzen Tag heiser und jetzt ist von ihrer Stimme nicht mehr als ein kratziges Flüstern übrig. Wieder und wieder versucht sie es, aber ihre Worte erreichen Lätizia nicht.

„Ich hatte so Panik, als meine Stimme komplett weg war und habe mich gefragt, was passiert, wenn sie nicht rechtzeitig wiederkommt. Das ist wirklich das Schlimmste, was passieren kann, dass du zum Auftritt keine Stimme hast. Wenn man ein bisschen Grippe hat oder selbst wenn ich mir den Arm gebrochen habe, kann ich immer noch spielen und singen, aber wenn ich keine Stimme habe, dann geht halt nichts mehr“, erzählt Vanessa.

Genau das ist auch einer der Gründe, warum die weiblichen Hauptrollen doppelt besetzt sind. So muss keine Vorstellung abgesagt werden, selbst wenn eine der Darstellerinnen ausfallen sollte. Bei den männlichen Darstellern sieht das allerdings ganz anders aus. Wie in jedem Jahr gibt es nur wenige Männer, die sich für ein Musical begeistern lassen und nicht alle davon können stimmlich das leisten, was von einer Hauptrolle gefordert wird. Deshalb sind die Hauptrollen bei den Männern nur einfach besetzt und die Darsteller können nur hoffen, dass keiner von ihnen krank wird.

Eine große Familie

Den zweiten Akt verbringt Vanessa wieder auf ihrem angestammten Platz in der Gesangskabine. Mit dem Ende einer Massenszene schwillt der Geräuschpegel auf der anderen Seite des Vorhangs erneut an, als das Ensemble durch das Requisitenlager nach draußen stürmt. Nach einigen Augenblicken folgt Vanessa ihnen. Auf dem Gang wird sie von einem wilden Durcheinander von Leuten empfangen, die sich atemlos die Kleidung vom Leib reißen und ebenso schnell andere Kleidung überwerfen. „Braucht irgendjemand noch Hilfe?“ fragt sie, während ihr Blick über die Leute wandert. Die ersten sind bereits fertig und stürzen an ihr vorbei zurück ins Requisitenlager. „Ja, hier!“, ertönt es aus einer Ecke und Vanessa eilt hinüber. Schnell hilft sie dem Mädchen, das Oberteil herunter zu ziehen, dass sich im Mikroport verfangen hatte und befestigt dann die goldenen Armreifen. Mit einem „Danke“ sprintet das Mädchen davon. Vanessa sieht sich um, aber die meisten Schauspieler sind inzwischen fertig und eilen den anderen hinterher ins Studio. Vanessa folgt ihnen langsam.

Gerade bei den äußerst knapp bemessenen Umzügen zwischen den Szenen wird jede helfende Hand gebraucht. Doch auch sonst muss jeder auf den anderen achten, damit das Team funktioniert und alles so reibungslos wie möglich läuft. Besonders die Endproben haben dafür gesorgt, dass das Team eng zusammengewachsen ist. „Ich habe so viele liebe, großartige Leute kennengelernt. Das ist der Wahnsinn. Die Theatergruppe ist wie so eine kleine Familie. Du wirst so liebevoll aufgenommen und jeder macht dir Mut.“ Vanessas Augen strahlen, als sie über ihre neuen Freunde redet. Es gab Tage, an denen sie sich gefragt hat, warum sie sich den Stress und die unzähligen Proben überhaupt antut. Tage, an denen sie nicht glaubte, gut genug zu sein und besonders an solchen Tagen war die enge Bindung zum Rest des Teams unentbehrlich für sie. „Du gehst von der Bühne runter und es kommen Leute zu dir und sagen ‚das war so schön‘, ‚du machst das toll‘ und dann fühlst du dich so viel besser.“

Als Lätizia auf der Bühne ihr letztes Lied anstimmt, macht auch Vanessa sich bereit. Vor dem Requisitenlager herrscht wieder hektisches Gewusel, aber diesmal hat sie keine Zeit zu helfen. Hinter dem Vorhang wartet sie darauf, dass die letzten Töne des Liedes verklingen und sobald das Licht erlischt, eilt sie auf die Bühne, um ihren Platz als Lätizias Double für die letzte Szene einzunehmen. Die Geschichte von Aida kommt wieder in der Gegenwart an und die Liebenden treffen sich in einem neuen Leben wieder. Ihre Vergangenheit ist nur noch eine blasse Erinnerung, am Leben erhalten von Ausstellungsstücken in einem Museum.

Text: Sophia Grimm, Titelbild: Lisa Köhlmann

<h3>Benjamin Agsten</h3>

Benjamin Agsten

Benjamin studiert an der Hochschule Mittweida Medienmanagement mit der Vertiefung Digital Journalism. Er ist seit April 2018 Ressortleiter für das Ressort "Story" auf medienMITTWEIDA und seit Juli 2018 als freier Journalist für die Freie Presse aktiv.