Kulte unserer Kindheit

Moorhuhn

von | 10. Juni 2019

Als ein kleines Huhn aus Schottland in das Visier der Deutschen geriet.

1999 flog das Moorhuhn zum ersten mal über die PC-Monitore. Anfangs nur in deutschen Büroräumen bekannt, wurde aus dem Huhn mit den großen Kulleraugen schnell eine Marke.

Die Flinte ist geputzt und mit Munition bestückt. Ein kurzer Blick durch das Büro: Sehr gut, der Chef ist gerade nicht da. Die 90 Sekunden Jagd können beginnen. Ein Klick auf die Enter-Taste und es flattert über den Bildschirm des Büro-Computers, von links nach rechts und von rechts nach links. Spätestens an dieser Stelle ist bekannt, wen wir jagen –  nämlich eines der bekanntesten Hühner Deutschlands, das Moorhuhn. Mit seinem unschuldigen Blick eroberte das Moorhuhn sämtliche Herzen. 

Werbung für schottischen Whiskey

Wie Spiegel Online im Jahr 2000 berichtete, konzipierte die Hamburger Agentur V und B 1997 die Idee der „virtuellen Moorhuhnjagd“, die als Software zu Werbezwecken des schottischen Whiskey-Herstellers Johnnie Walker dienen sollte. Nachdem Johnnie Walker von der Idee überzeugt war, erhielt die Werbeagentur Art Department aus Bochum im Jahr 1998 den Auftrag zur Umsetzung dieser Idee. Das optische Erscheinungsbild des Moorhuhns geht auf eine Pixelgrafik des Grafikdesigners Ingo Mesche aus dem Jahr 1992 zurück. Der Spieleentwickler Frank Ziemlinksi, der seinerzeit für Art Department arbeitete und für die Entwicklung des ersten Moorhuhn-Spiels zuständig war, stand mit Mesche in gutem Kontakt und beauftragte diesen zur Entwicklung eines ersten 3D-Artworks. Wie das Moorhuhn-Wiki schreibt, wurde das erste Moorhuhn-Spiel 1998 von dem niederländischen Entwicklungsstudio Witan entwickelt. Mesche übernahm bei der Spielentwicklung einen Großteil der grafischen Arbeit. Rückblickend gilt Mesche als Vater der Moorhuhn-Figur und Ziemlinski als Vater der Moorhuhn-Spielereihe.

Ab Oktober 1998 existierte das erste Moorhuhn-Spiel nur auf einigen wenigen Rechnern. Der Name des Moorhuhns leitet sich übrigens von der im ersten Spiel vorkommenden Landschaft ab, welche ein typisches schottisches Hochmoor zeigt. Das Spiel, welches damals den Namen „KippenSchieten“ trug, wurde auf Laptops durch Promotion-Teams in ausgewählten deutschen Kneipen und Bars präsentiert. Wie SPON in einem Artikel von 2012 zusammenfasst, durften die Kneipenbesucher somit erstmals die damals noch unbekannten Moorhühner jagen. Wer an dieser virtuellen Jagd teilnahm, bekam eine kostenlose Whiskey-Probe von Johnnie Walker und wer besonders viele Moorhühner traf, bekam eine Diskette mit dem vorinstallierten Spiel als Gewinn ausgehändigt. Mit der PR-Aktion konnte auf spielerische Art und Weise eine Brücke zwischen schottischen Jagdgewohnheiten und dem schottischen Nationalgetränk hergestellt werden. An dieser Stelle galt der Auftrag der Hamburger Agentur V und B als erledigt und abgeschlossen.

Höhenflüge durch das Internet

Der sogenannte „Moorhuhn Boom“ wurde weder von den beteiligten Agenturen noch von Johnnie Walker selbst ausgelöst und war auch nie geplant. In einem SPON-Artikel aus dem Jahr 2000 heißt es, dass das Spiel offensichtlich von einem der wenigen Laptops kopiert wurde. 1999 wurde das Spiel dann auf einigen privaten Homepages zum kostenlosen Download angeboten. Schnell kamen weitere Download-Angebote dazu und das Moorhuhn wurde zum Selbstläufer sowie zum Publikumsliebling. Allein rund 5.000 Downloads verbuchte die Website des Berliner Radiosenders 104.6 RTL. Der Hype des Moorhuhns verbreitete sich so rasant, dass das Moorhuhn innerhalb kürzester Zeit in sämtlichen Zeitungen und Fernsehsendungen, wie zum Beispiel der Late-Night-Show von Harald Schmidt präsent war. Bevorzugt gespielt wurde das Spiel besonders in Büros, da diese in der Regel alle mit Computern ausgestattet waren. Eine Spielrunde dauert gerade mal 90 Sekunden und ließ sich somit ideal in den Büroalltag integrieren. Aus einer Spielrunde wurden dann auch mal zwei oder drei, so dass schnell klar wurde, dass das Spiel ein hohes Suchtpotenzial auslösen kann.

Wie SPON berichtet, stand das erste Moorhuhn-Spiel in der Kritik des Deutschen Tierschutzbundes, der dieses seinerzeit als ein Beispiel für den mangelnden Respekt vor Tieren darstellte. Aufgrund möglicher Proteste von Tierschützern ließ Johnnie Walker während der Programmierphase immer wieder Änderungen am Spiel vornehmen. Das Resultat: Zum Ende jeder Runde sieht man ein trauriges Moorhuhn mit einer Krücke und einem eingegipsten Bein neben der Highscore-Tabelle, welches zeigen soll, dass die Tiere nur vom Himmel geholt, aber nicht getötet werden.

Die Werbeagentur Art Department änderte 1999 ihren Firmenname in Phenomedia AG und brachte am 23. Dezember desselben Jahres „Die Original Moorhuhnjagd“ als käuflich erwerbbares Computerspiel heraus. Laut einem Artikel des Moorhuhn-Wiki, wurden bei dieser Version alle Schriftzüge und Logos des schottischen Whiskey-Herstellers Johnnie Walker entfernt und teilweise mit dem Abbild des Moorhuhns ersetzt.

Das Moorhuhn wird zu einer Marke

Der „Moorhuhn Boom“ in Deutschland war in vollem Gange und aus dem schottischen Huhn, mit dem markanten großen Glubschaugen ist eine Marke geworden. Neben der Präsenz im Computerspiel folgten sämtliche Merchandising-Artikel. In Computerzeitschriften wurde das Moorhuhn zu einem regelrechten Maskottchen, das durch die Trends der zur damaligen Zeit aktuellen Computerspiele führte. Der deutsche Komiker Wigald Boning brachte im April 2000, passend zum Hype den Song „Gimme More Huhn“ heraus, welcher sich dadurch zwei Wochen in den deutschen Charts hielt.

Der Anstieg des Moorhuhn Hypes konnte im Sommer 2000 noch einmal beschleunigt werden, als die Phenomedia AG die Veröffentlichung eines zweiten Moorhuhn Teils ankündigte. Mit der Veröffentlichung von „Moorhuhn 2“ am 20. August 2000 erreichte der Moorhuhn Hype seinen absoluten Höhepunkt, welcher danach nie wieder getoppt wurde. Dabei liegen Freud und Leid bei dieser Veröffentlichung nah beieinander. Wie die COMPUTER BILD SPIELE zu jener Zeit berichtete, brach das Internet in Deutschland am Veröffentlichungstag für einige Zeit zusammen, da die damaligen Haupt-Knoten-Punkte des Netzes in Hamburg und Frankfurt am Main lahmgelegt wurden. Grund dafür waren die hohen Download-Zahlen des zweiten Moorhuhn Teils, welche rund 180.000 zählten. Dadurch, dass das Spiel zu Beginn im Internet kostenlos angeboten wurde, stiegen die Download-Zahlen in Rekordgeschwindigkeit. Im Handel kostete das Spiel zwanzig Mark (≙ ca. zehn Euro). Der Hype des Moorhuhns in Deutschland strahlte über die digitalen Verbreitungswege auch ins Ausland ab, konnte dort aber bei weitem keinen ansatzweise ähnlichen Boom auslösen. In nicht deutschsprachigen Ländern wurde das Moorhuhn unter dem Namen „Crazy Chicken“ vermarktet.

Der Moorhuhn-Blocker und die Boss-Taste

Da das Moorhuhn weiterhin primär in deutschen Büros präsent und auch den meisten Arbeitgebern bekannt war, kam es nicht selten vor, dass sich Firmen Maßnahmen überlegten, um gegen das „Moorhuhnjagdfieber“ vorzugehen ‒ Häufigere Kontrollen der Büro-Computer waren die Folge. Der Phenomedia AG war dieses Problem durchaus bekannt und somit versuchte sie mit dem Release des zweiten Moorhuhn Teils eine Möglichkeit zu schaffen, welche sich für Arbeitgeber aber auch für Arbeitnehmer attraktiv darstellten und den, vom „Moorhuhnjagdfieber“ überrumpelten Büroalltag, beruhigen sollte.

Für die Arbeitgeber bot sie eine kostenlose Software mit dem Namen „Moorhuhn-Blocker“ an, welche bis zu 24 Stunden nach der Veröffentlichung des zweiten Moorhuhn Teils auf der offiziellen Moorhuhn-Website angeboten wurde. Mit der Software hatte der Arbeitgeber die Möglichkeit die installierte Version eines Moorhuhn-Spiels auf dem jeweiligen Büro-Computer zu erfassen sowie die Nutzung des Spiels zu registrieren. Die Software bot außerdem verschiedene Funktionen, welche die virtuelle Ballerei unterbinden sollte.

Beim Arbeitnehmer und potenziellen Käufer der Moorhuhn-Spiele wurde ab dem zweiten Teil die sogenannte „Boss-Taste“ eingebaut. Laut einem weiteren Artikel von SPON aus dem Jahr 2000 ist die „Boss-Taste“ keine neue Erfindung und hat ihre Wurzeln in verschiedenen Computerspielen aus den späten achtziger Jahren. Bei „Moorhuhn 2“ und seinem unmittelbaren Nachfolger war die „Boss-Taste“ auf der Taste B der Computertastatur platziert. Sobald diese Taste im Spiel betätigt wird öffnet sich ein Screenshot, welcher ein modifiziertes Interface, eines damals auf jedem Büro-Computer installierten Word Dokuments zeigt. Mit dieser Funktion sollte dem Arbeitnehmer die Möglichkeit geboten werden, beim erneuten Ausbruch des „Moorhuhnjagdfiebers“ vor den Blicken des Arbeitgebers getarnt zu bleiben.

Goldene Jahre & Gerichtsverhandlungen

Die Jahre 1999 bis 2002 werden rückblickend als die goldenen Jahre des Moorhuhns betitelt. Ganze fünf Computerspiele brachte die Phenomedia AG in diesem Zeitraum heraus. Wie das Moorhuhn-Wiki berichtet wird das Moorhuhn bis heute in der Werbebranche als eines der bekanntesten und besten Beispiele für virales Marketing aufgeführt. Dabei werden die Werbemaßnahmen für das erste Moorhuhn-Spiel als wegweisendes Beispiel viraler Marketing-Kampagnen herangeführt. Das Moorhuhn machte Höhenflüge und das nicht nur auf den PC-Monitoren, sondern auch in den Köpfen mehrerer Manager der Phenomedia AG. Diese Höhenflüge hatten mit der Realität wiederum nichts gemein und kündigten einen baldigen Sturzflug an. Wie SPON in einem Artikel von 2009 schreibt, startete 2004 ein Strafprozess gegen sechs Manager der Phenomedia AG wegen Bilanzbetrug, Insiderhandel und Steuerhinterziehung. Die Phenomedia AG gab seit dem Börsengang 1999 falsche Bewertungen ihres Unternehmens an, welche überschätzte Umsatzzahlen mit sich brachten, die wiederum die Erwartungen des Börsenmarktes nach oben schraubten. Der Börsenwert der Phenomedia AG lag zwischenzeitlich bei rund einer Milliarde Euro. Nach Aufdeckung des Betrugs im Jahr 2002,

sank der Aktienkurs in den Keller und führte das Unternehmen in die Insolvenz.

Weiterhin tief im „Moorhuhnjagdfieber“ versunken, merkte fast keiner, dass die Geschichte des schottischen Huhns an dieser Stelle beinahe zu Ende erzählt war. Der Erfolg und die starke Präsenz des Moorhuhns im Internet sprachen eine eindeutige Sprache, welche dafür sorgte, dass das Kerngeschäft „Computerspielevermarktung“ der Phenomedia AG an eine Investorenfirma verkauft wurde. Wie man im Handelsblatt von 2004 nachlesen kann, wurde am 1. Juli 2004 die Phenomedia publishing GmbH gegründet, welche mit der Phenomedia AG nichts gemein hat und von diesem Zeitpunkt an die Moorhuhn-Spielereihe fortsetzte.

Virales Marketing

Virales Marketing beschreibt eine Marketingform, welche verschiedene Medien sowie Soziale Netzwerke nutzt, um ihre Werbebotschaften zu verbreiten. Die Verbreitung der Botschaften ist unkompliziert und nutzt in der Regel ungewöhnliche Nachrichten, die auf ein Produkt, eine Marke oder Kampagne aufmerksam machen soll.

Der Weg zum Kult

Seit der Gründung der Phenomedia publishing GmbH hat das Moorhuhn eine starke Entwicklung durchlaufen. In verschiedenen Computerspielgenres kann das Moorhuhn heute auf eine vielseitige Spielpalette zurückschauen, in der es sich nicht nur als Kanonenfutter qualifiziert, sondern auch die Rolle eines Kartfahrers oder Abenteurers übernimmt. Jedoch hat das Moorhuhn über die Jahre an Stellenwert verloren. 2009 erschien eine Jubiläumsedition zum zehnjährigen Jubiläum des Huhns mit 21 Vollversionen der Moorhuhn-Spielereihe. Nach Angaben von SPON bestand die Phenomedia publishing GmbH im Jahr 2012 gerade mal noch aus drei Mitarbeitern, unter denen weder IT-Spezialisten noch Spieleentwickler vertreten waren. 2017 wurde die Phenomedia publishing GmbH liquidiert, womit alle Rechte an der Marke Moorhuhn an die ak tronic Software & Services GmbH übertragen wurden.

Was bleibt, ist die Erinnerung

Das Moorhuhn stellt heute für eine Vielzahl junger Menschen im alter zwischen 20 und 30 Jahren einen Kindheitskult dar. Es wurde in einer Zeit populär, in der PC’s den technischen Stellenwert eines heutigen Smartphones hatten. Nachdem die „Moorhuhnjagd“ in sämtlichen deutschen Büros gehypt wurde und die goldenen Jahre des Moorhuhn angebrochen waren, verbreiteten sich die Moorhuhn-Spiele auch bei einem Großteil der jüngeren Zielgruppe. Die Funktionsweise eines PC’s stellte für viele Kinder kein Problem dar und ein paar Computerspiele gehörten beim Umgang mit dem PC einfach dazu. Somit war es nicht selten, dass sich das eine oder andere Moorhuhn auf dem Computer verirrte. Im Jahr 2019 ist das Moorhuhn bei weitem nicht mehr so präsent, wie es das Anfang des Jahrtausends war. Bei einer Vielzahl, der damals noch sehr jungen Zielgruppe, löst es heute Kindheitserinnerungen aus und bei Anderen wird es im Kopf für ein Schauspiel von längst vergangenen Jagdgewohnheiten im Computerbüro sorgen.

Am 15. Mai 2019 brachte die ak tronic Software & Services GmbH anlässlich des 20. Jubiläums der Moorhuhn-Spielereihe eine Neuauflage der ersten originalen Moorhuhnjagd heraus, bei der sich die Spieleverpackung größtenteils am Original von 1999 orientiert. Auf das Moorhuhn werden heute schon lange keine Jagdflinten mehr gerichtet und es scheint als wäre es komplett ausgerottet. Dennoch begegnet es uns heute auf der ein oder anderen Werbeanzeige im Datenstrom des Internets und beweist uns damit, dass es noch lange nicht in den Geschichtsbüchern der deutschen Computerspielgeschichte versunken ist.

Text und Titelbild: Norman Banek

<h3>Norman Banek</h3>

Norman Banek

ist 23 Jahre alt, kommt aus Chemnitz und studiert seit 2016 Medienmanagement an der Hochschule Mittweida, mit der Vertiefung Production. Im Radio seiner Hochschule war er bereits als Redakteur und Nachrichtensprecher tätig. Seit März 2019 ist er in der Redaktionsgruppe „Marketing“ aktiv, in der er unter anderem ein Corporate Design für medienMITTWEIDA entwickelt. Nebenbei ist er an der Organisation und Umsetzung von Bewegtbildinhalten auf der Website beteiligt.