Zwölf Stunden
Schlaflos durch die Nacht
Zu Uhrzeiten, an denen viele Menschen noch schlafen, muss Julia ein Geräusch aus der Dunkelheit befürchten. Titelbild: Benjamin Agsten
Die Lider werden schwer. Sie möchte dem Drang nachgeben und endlich einschlafen. Doch da, sie hört ein entferntes Geräusch. Der Becher fiel und sie weiß, das Spiel geht wieder von vorne los.
Die Qual der Nacht
Julia ist 26 Jahre alt und arbeitet seit 2016 als Sozialassistentin in einem heilpädagogischen Heim für pflegebedürftige Kinder. Zu ihren Aufgaben zählen nicht nur die äußerliche Pflege dieser, sondern, auch deren innere Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie kümmert sich um sie, ist eine Unterstützung im Alltag und hört ihnen bei Problemen zu. Empathie und Zuverlässigkeit sind in ihrer Arbeit das A und O. Zwölfstundendienste gehören hierbei zu ihrem Arbeitsalltag.
Julia lernt, wie es ist, in einem Schichtsystem zu arbeiten. Wie es ist, zwölf Stunden wach zu sein und nicht einschlafen zu können. Im Interview erzählt sie von ihren Erlebnissen und Gefühlen während der Arbeit.
Ihre Augen sind gezeichnet von der vorherigen Nacht, von der letzten Nachtschicht. Die zweite von insgesamt vier diesen Monat. Normalerweise werden diese Dienste am Stück absolviert. Nach Absprache konnte Julia diese aufteilen. Nun muss sie noch zwei Zwölfstunden-Schichten am Stück aushalten. Ja, aushalten. Denn für sie werden genau diese oft zur Qual.
Die abendliche Routine
Der Nachtdienst beginnt für Julia um 20 Uhr abends. Nein, eigentlich schon eine Viertelstunde früher, denn es wird sich mit dem Spätdienst abgesprochen, was alles erledigt worden ist, ob es Probleme gab und was für Aufgaben noch ausstehen. Danach beginnt die eigentliche Betreuung der acht Kinder der Birkengruppe. Diese befinden sich im Alter von zehn bis 19 Jahren.
An diesem Abend ist für fünf Kinder schon die Schlafenszeit angebrochen. Julia muss nur noch die drei ältesten Mädchen bettbereit machen und hätte dann die Erlaubnis gehabt, sich auch schlafen zu legen. Doch dies gelingt ihr nicht. Sie liegt in ihrem Bett. Naja, nicht ihrem Bett, sondern dem Bett der Einrichtung. Es ist nicht ihr Zuhause. Dieses Bewusstsein lässt sie nicht das erlösende Gefühl des Einschlafens erleben. Sie hat das Gefühl in einen „Dämmerzustand“ zu gelangen, wie sie sagt. Sie träumt. Es sind wirre und unfertige Träume, aus denen sie immer wieder herausgerissen wird. Sie ist wie benebelt, wenn sie aus diesen halbfertigen Träumen erwacht und ihr bewusst wird, dass sie sich in dem Schlafraum ihrer Arbeit befindet.
Aber es sind nicht nur die Räumlichkeiten, die sie an dem Einschlafen hindern. Es ist das Wissen, dass jeden Moment ein hilfsbedürftiges Kind vor ihrer Tür stehen könnte. Es ist „die Angst vor der Angst“, sagt sie. Es könnte jeden Moment jemand schreiend oder weinend aufwachen. Vielleicht muss auch ein Bett neu bezogen werden.
Leon
Es ist 4:45 Uhr in der Nacht. Der Dämmerzustand ist nun zu Ende, denn es ertönt ein Schrei. Leon macht auf sich aufmerksam. Julia läuft zu seiner Tür, die sich am anderen Ende des Gangs befindet. Sie öffnet sie und beruhigt ihn. Sagt zu ihm, dass er noch etwas schlafen kann. Streichelt ihm über den Kopf und deckt ihn liebevoll zu. Leon ist ein zwölfjähriger Junge, der schon seit seinem jungen Alter betreuende Unterstützung benötigt. Er leidet unter einer extremen Entwicklungsverzögerung, die ihm nicht ermöglicht, ganze Sätze zu sprechen oder auch im gewissen Maße selbstständig zu sein. Er neigt dazu, mitten in der Nacht aufzuwachen und dann nicht mehr einschlafen zu können. Um es den Betreuern in diesem Fall schneller zu ermöglichen einzugreifen, wurde ein Becher auf die Türklinke gestellt, der herunterfällt, wenn sich Leon aus dem Zimmer bewegt.
Und wieder einmal…
Das zweite Mal ertönte kein Schrei, aber auch kein Geräusch des runterfallenden Bechers. Nur die Schritte kleiner flinker Füße sind zu hören. Julia steht auf, geht aus ihrer Tür und da steht Leon, zunehmend erschrocken. Er wollte zur Garderobe, da war sie sich sicher. Sie erzählt von einer Spieluhr, die er sich oft zur Beruhigung an das Ohr hält. Wahrscheinlich war er auf dem Weg, sich genau diese zu besorgen. Julia nimmt ihn an der Hand und ging schnellen Schrittes zurück zu seinem Zimmer, deckte ihn zu und verabschiedete ihn mit liebevollen Worten, wie beim ersten Mal.
Der Trick mit dem Becher funktioniert normalerweise sehr gut, nur mittlerweile wurden Gegenmaßnahmen getroffen. „Leon weiß über den Becher Bescheid“, erklärt Julia. Mittlerweile achte er darauf, die Tür so behutsam zu öffnen, dass der Becher gar nicht erst herunterfällt. Beim dritten Versuch war der bekannte Knall des runterfallenden Bechers zu hören. Dies geschah noch mehrmals in dieser Nacht. Der Becher fiel, Julia ging raus und brachte Leon wieder ins Bett. Dann wurde es plötzlich still. Es ertönte ein weiteres Mal ein Aufschrei. Doch Julia war sich sicher, das war nicht Leon.
Der ungebetene Besucher
Sie geht aus ihrem Zimmer in eine Tür, nicht weit entfernt von ihrer. Dort sitzt Leon, auf einem Sitzsack. Er starrt einen autistischen Jungen an, der sich nur auf eine Weise wehren konnte: Schreien. „Das ist bisher noch nie vorgekommen“, sagt Julia. Leon sei noch nie einfach so in ein fremdes Zimmer gegangen. Nun nimmt sie ihn ein weiteres Mal an die Hand. Leon spuckt und klatscht. Energisch geht die 26-Jährige mit ihm zu seinem Zimmer. Es folgten keine lieben Worte mehr, sondern Drohungen, dass er als letzter und nicht wie sonst als erster aus dem Bett aufstehen würde. Es ist 05:15 Uhr.
Der Tag beginnt
Für Julia beginnt nun die Frühstücksvorbereitung. Sich noch einmal eine halbe Stunde hinlegen, das ist für sie unmöglich. Das Bewusstsein, der Becher könnte wieder knallen, lässt ihr einfach keine Ruhe. Für Julia ist die Nacht nun vorbei, der Dienst jedoch nicht. Ab 06:30 Uhr kommt der Frühdienst zur Unterstützung. In geschlossener Runde wünscht man sich einen „Guten Morgen!“. Gut war dieser Morgen für Julia nicht. Der Schlafentzug zerrt immer noch an ihren Nerven. Das Wissen, es sei Tag und nicht Nacht, lässt sie auch Zuhause nicht zur Ruhe kommen. Es verbleibt ihr nur die Möglichkeit zu warten bis sich die Welt in einen dunklen Schleier hüllt.
Text: Kristin Weber, Titelbild: Benjamin Agsten